Sechstens verlangt die politische Vernunft, die Kosten gewaltsamer Konfrontationen abzuwägen gegen die Kosten ihrer Vermeidung. Sie verpflichtet dazu, sich vor Augen zu halten, was den demokratisch legitimierten Gemeinwesen droht, wenn sie solchen Konfrontationen ausweichen. Die verschiedenen Machtsorten – ökonomische, militärische, kulturelle, finanzielle, kybernetische – sind mitnichten politisch gleichwertig. Die militärische Drohung ist von keiner anderen Machtsorte zu kompensieren. Wer kriegerischen Zusammenstößen auf jeden Fall ausweichen will, wird erpreßbar. Wer wirksam droht, wird dem kampfunwilligen Kontrahenten immer Zugeständnisse abpressen. Solche Erpreßbarkeit ist immer ein Souveränitätsverlust. Die Europäer sollten nicht vergessen, daß noch vor 200 Jahren westliche Staaten Tribute an die maghrebinischen Emirate zahlten, um deren Piraterie vom eigenen Handel fernzuhalten. Seit der Auflösung der globalen Blöcke ist dieser Mechanismus wieder in Gang gekommen.
Siebtens erheischt die politische Vernunft das ungetrübte Begreifen, daß die Feindschaft ein kardinaler Begriff des Politischen ist. Feindschaft ist eine unvermeidbare Beziehung zu jenen Kräften, die offen jene universalen Werte bekämpfen, ohne die eine menschenrechtlich verpflichtete Weltrepublik nicht denkbar ist. Dieses siebente Bedingnis ergibt sich aus dem sechsten. Es entrichtet eine distanzierte Hommage an Carl Schmitts »Begriff des Politischen«. Dieser hatte das Politische bestimmt von der Warte einer kriegsfähigen Gemeinschaft aus: Egal ob diese Gemeinschaft eine staatliche, eine ethnische oder eine religiöse ist, die kardinale Frage ist die, ob sie fähig ist, kollektiv verbindlich zu bestimmen, wer Feind und wer Freund ist. Für Schmitt ist das Politische also eine Kategorie der Intensität von Assoziation und Dissoziation.3 Welche politische Verfaßtheit die kriegsfähige Gemeinschaft hat, ist ihm dabei gänzlich gleichgültig. Von dieser Position setzt sich die hier gewählte Definition des Politischen scharf ab. Denn es bezeichnet einen abgegrenzten sozialen Bereich, der sich desto mehr autonomisiert, je intensiver und extensiver die institutionell geformte Partizipation der Mitglieder einer Gemeinschaft sich gestaltet. Seine Lebendigkeit bemißt sich nicht so sehr an der Kriegsfähigkeit als vielmehr an der Entscheidungsfähigkeit. Ein solcherweise bestimmtes Politisches kann demnach ohne Kriege und Feindschaft auskommen. Es benötigt als zuzuführenden energetischen Stoff lediglich den Konflikt, nämlich die ständigen Reibereien von Meinungen, Optionen und Zielen. Jedoch bleibt es hinsichtlich der Schmitt’schen Definition auf einem parallelen Weg, solange auf dem Planeten feindliche und kriegsfähige Einheiten hausen. Solange Kriege möglich sind und so lange wie eine republikanische Weltföderation außer Reichweite ist, bleibt die Feindschaft eine kardinale Kategorie des vernünftigen Denkens. Für jede ernsthafte kulturelle Selbstvergewisserung sind das semantische Potential und der kognitive Mehrwert von Feindschaft riesig. Das wird zu behandeln sein im achten und neunten Kapitel.
Achtens verbietet die politische Vernunft, interesselose Neutralität zu üben, wenn die Maßstäbe zur Rechtfertigung von Wahrheitsansprüchen angetastet und beschädigt werden. Wer die Wahrheit als Ideal der Erkenntnis diskreditiert, setzt das Argumentieren außer Kraft. Der Austausch von Meinungen entledigt sich dann der Formen einer geregelten Diskussion und gerät zum rhetorischen Machtspiel. Wird das Wahre der Jurisdiktion des Guten unterstellt oder gar der sogenannten Gerechtigkeit, dann triumphiert die gute Gesinnung über die Erkenntnis und ebnet der Heraufkunft einer Kultur der Verlogenheit den Weg. Letzten Endes beschädigt das die institutionalisierten Verfahren, mittels derer sich Streit zwischen menschlichen Gruppen in rechtsförmiger Weise schlichten läßt; und ohne solche Verfahren sind gemeinsame Programme weder zu formulieren noch zu organisieren. Die wissenschaftliche und philosophische Form des kognitiven Universalismus ist deswegen eine entscheidende Ressource für die Zukunftsfähigkeit der menschlichen Gattung. Daher gebietet die politische Vernunft, jene in der griechischen Antike gesetzten Maßstäbe des wissenschaftlichen und logischen Argumentierens zu verfechten und zu bewahren. Im zweiten Kapitel wird dieses Thema eröffnet, in den Kapiteln sechs, sieben und neun werden die kulturellen Folgen der diskursiven Verschiebungen zu beleuchten sein.
Neuntens berücksichtigt diese Form der Vernunft, daß die Menschen sterblich sind und in Zeithorizonten leben. Die maßgebliche Kategorie beim Vermessen der Zeithorizonte ist die Generation. Generationen halten die menschlichen Staaten und Kulturen zusammen. Sie sind das Scharnier zwischen der biologischen Reproduktion eines jeden Staates und der Sterblichkeit seiner Individuen. Mehr noch: Der kulturelle Reichtum stellt sich unmittelbar dar als ungeheure Ansammlung von Artefakten und Institutionen. Dieses Kapital ist geronnene Arbeit und Mühe, objektivierte Tätigkeit. Es ist akkumuliert worden mittels der Tradition, d. h. der Weitergabe dinglicher und institutioneller Errungenschaften, sowie von Fertigkeiten und Wissen – von einer Generation an die andere. Dieser intergenerationelle Transfer übertrifft den Transfer zwischen Kulturen bei weitem. Kant ließ keinen Zweifel daran, was das bedeutet: »Dankbarkeit ist Pflicht (…) Was die Extension dieser Dankbarkeit angeht, so geht sie nicht allein auf Zeitgenossen, sondern auch auf die Vorfahren, selbst diejenigen, die man nicht mit Gewißheit namhaft machen kann.«4 Just im Jahre 1789, in seiner Jenenser Antrittsvorlesung, deduzierte Friedrich Schiller aus dieser Dankbarkeit eine geistige Disposition, uns verpflichtet zu fühlen gegenüber der Nachwelt, weil die Dankesschuld sich nur so überhaupt abstatten lasse. Wegen dieser intergenerationellen Verpflichtung betrachtete Edmund Burke Staaten als Gemeinschaften zwischen denen, die gelebt haben, leben und noch leben werden. Es ist ein Irrtum, hierin eine beliebige Identitätskonstruktion zu sehen; denn der Grund, dankbar zu sein, läßt sich nicht wegdiskutieren, da er in Gestalt tausendfacher Errungenschaften vor unseren Augen steht. Dieselben bloß für gegeben zu halten, würde die Menschen der Gegenwart in amnestische Troglodyten verwandeln, die als Parasiten durch die Geschichte stolpern.
Zehntens ist die politische Vernunft auf fundamentale und unkündbare Weise angewiesen auf ein kulturelles Gedächtnis und auf eine wissenschaftlich gesicherte Historie. Während die praktische Vernunft kantischen Stils keine Einbettung in die zeitliche Dimension benötigt – denn der kategorische Imperativ ist zeitlos –, verlöre die politische Vernunft einen Großteil ihrer praktischen Maximen, wenn man sie aus ihrer historischen Verankerung herausrisse. Die zweite Generation der Frankfurter Schule hat bei der Entkernung des kulturellen Gedächtnisses meinungsbildend mitgewirkt und eine politische Pädagogik angepriesen, deren Bildungshülsen die jüngeren Generationen ohne Orientierung lassen und sie der grellen Dringlichkeit der momentanen politischen und geistigen Konjunkturen ausliefern. Nur die Einbettung in die geschichtliche Dimension behütet vor solcher Orientierungslosigkeit, und nur mittels eines soliden kulturellen Gedächtnisses vergewissern sich die Menschen dieses Eingebettetseins.
Elftens verbietet diese Vernunft jedwede Toleranz gegenüber den multiplen Vergangenheitskonstruktionen unterschiedlichster groupes mémoriels und den Memorialpraktiken unterschiedlichster Kulturen, sofern diese unwillig sind, sich den wissenschaftlichen Korrekturen zu stellen. Unter der Flagge der ›Historischen Gerechtigkeit‹ ereignen sich schlimmste Leugnungen inmitten einer Öffentlichkeit, die sich moralisch einschüchtern läßt und inzwischen sogar ein legitimes Lügen jenen groupes mémoriels eingeräumt hat, die für ihr supponiertes Leiden der Mitwelt ein kognitives Entgelt abverlangen. Solche Gedächtnispolitiken erzeugen Feindschaften neuen Typs und beschädigen die universalen Ansprüche umfassend und nachhaltig, so daß die programmatische Orientierung auf eine Weltrepublik in ausweglose Diskreditierung schliddert. Das Kapitel sieben will sich dieses Übels annehmen.
Das zwölfte Bedingnis lautet: Die politische Vernunft kann nicht deontologisch sein wie die praktische Kants. Sie entläßt die gute Gesinnung nicht aus der Haftung, obschon diese sich dagegen sträubt, die Konsequenzen des absolut guten Handelns zu gewärtigen. Die Vernunft begrenzt die Verantwortung auf den Kreis der eigenen Möglichkeiten zu handeln. Damit stellt sie sich frontal gegen einen hegemonial werdenden Diskurs, welcher eine grenzenlose und bedingungslose Nächstenliebe aus einem göttlichen Gebot in eine politische Maxime verwandelt – ohne Rücksicht auf die Folgen. Denn wenn die Verantwortung überdehnt wird, dann ruinieren sich sowohl der Sinn der Verantwortung wie auch der Sinn für dieselbe.5 Die Basissätze dieser Entgrenzung werden beleuchtet im folgenden Kapitel, ihre politische