»Ah ja!« entgegnete Blasel kauend, setzte sich aber alsogleich in Gang, und als sie zu dritt beim Tor des Bräuhauses herfürkamen und die paar Katzensprüng zum Stralzen hinter sich brachten, erblickten sie bei dem einen Fenster des Tafelzimmers den Herrn Vater, bei dem andern Matthäus. Nur Markus hatte sich bockbeinig nicht von seinem Platz gerührt, wo er sich vor einer guten Viertelstunde aufgestellt hatte.
Es waren inzwischen einige gewichtige Worte gefallen. Der Herr Vater hatte, auf und ab schreitend und hiebei das Zimmer betrachtend, zu seinen Kindern gesagt:
»Wir wissen noch nit, welcher dermaleins Stralz wird. Nach menschlicher Voraussicht ist wohl anzunehmen, der Matthäus. Aber auch für euch wird gesorgt werden. Merket, nit jeder hat das Glück, daß er in einer reputierlichen Familie auf die Welt kömmt. Ihr sollts das einschätzen.«
Die Buben stunden unbeweglich da, und der Herr Vater betrachtete die Stube. Er liebte sie, weil sie nicht von beschwerlichem Reichtum, sondern von Wohlstand zeugte. Sie hatte hundertjährige steife Sessel und einen ovalen Tisch aus fein poliertem Holz. Über dem Damastsofa hing ein Spiegel, goldgerahmt und von allerklarstem Schliff. Stehkasten und Kornmode stammten augenscheinlich aus Maria Theresiens Zeit; sie waren breit und massiv und mit eingelegten Furnieren mattflammig geziert. Auch der Gläserkasten stand darin, welcher die gediegenen Hochzeitsgeschenke der Familie, allerlei künstlichen Blumenschmuck und die Bibel enthielt. Zwischen den Fenstern nach dem Obstgarten zu hingen nebeneinander die drei Lehrbriefe des Herrn Andreas Stralzen. Und auf der Kommode tickte die Bronzeuhr mit dem Schäferknaben.
Vater Stralz liebte diese Stube, weil sie groß und räumlich war, weil der grüne, in ein knopfiges Türmchen auslaufende Kachelofen im Winter gut heizte und weil man, ohne die Einrichtung viel zu rücken, gut noch drei lange Tische aufstellen konnte, wenn bei festlichem Anlaß die Vettern, Muhmen, Basen und die ganze Freundschaft zu einer Tafel hergeladen ward. So groß und räumlich war das Zimmer.
Er liebte es mehr noch aus einem andern Grunde. Wo die Mauer gegenüber der Straßenseite sich zu einem flachen Gewölb vertiefte, stand, von weichen, faltigen Gardinen umsäumt, eine Bettstatt mit vier schlank gedrechselten Säulen, so einen Himmel trugen. Das Bild über dem Kopfende zeigte die Mutter Maria, wie sie nach der Empfängnis über das Gebirge zu Elisabeth wandert. Unterhalb stellten noch frischere Farben ein Knäblein dar, in Windeln gehüllt, lächelnd und unschuldig. Und einen seltsamen Spruch gab es dortselbst zu lesen:
»Hier lig ich als Kint,
Bis ich Aufsteh und Straff die Sündt.«
Der Herr Vater liebte dieses Bett. Er schob den Fürhang zurück und zeigte es den Söhnen:
»Euer Großvater«, sagte er, »euer Muhm, die Schlosserin, die Vasoldin zu Stainach, euer Urgroßvater, dahinter die Stammältern, Glied um Glied, ich selber, meine Brüder und Schwestern sind darin geboren!
Nur der Blasel nit, drum ist kein richtiger Stralz aus ihm worden.
Bedenkt es und schätzt es ein.«
Weil aber der Herr Vater seine ganze Gedankenreihe ihnen vorenthalten und nur den Schluß hinsagte, daß es ohne Zusammenhang ausschaute wie ein Stern am lichten Tag, und weil seinen Buben die Geschichte dieses Bettes längst nicht mehr neu war, blieb sie naturgemäß ohne Wirkung. Der Stralz hatte es bemerkt, hatte den Kopf geschüttelt und, nachdem er einige Male durchs Fenster gesehn, den Lukas in die Taverne geschickt.
Nun waren sie herbeigekommen. Auch die Regina. Sie fühlte sich wie eine Schwester verpflichtet, den Stralzensöhnen in guten und bösen Stunden beizustehn, insbesonders bei denjenigen Ereignissen, welche bedrohlich und entscheidend über ihre drei strohblonden Schädel dahinschwebten. Eng an den Kachelofen gedrückt, der auf den vier Messingfüßchen solid und behäbig wuchtete, lehnte das Dirndel da, spreizte die Augen, und das Herz tickte hell und schnell mit einem leisen Unterton, so wie die Schäferuhr im Glasgehäuse, welche sie aufziehen durfte, wann die Frau Mutter es vergessen hatte …
Die beiden Männer setzten sich. Jetzt erst wurde durch Gegenüberstellung mit dem Halbbruder erkennbar, wie sorgsam gekleidet, wie wohlgepflegt der Stralz war. Selbst Blasel, dem kein Neid und kein Feingefühl wehtat, erkannte den Unterschied. Er setzte sich nur zögernd auf den Lederpolster und nahm von diesem nur die Hälfte in Anspruch, wie es sich für ihn auch schickte.
»Blasel«, sagte der Herr Vater, »morgen nimmst den Markus in die Lehr. Er muß dir in allem folgsam sein; er muß grob arbeiten wie jeder Knecht! Verstanden?«
Blasius Stocker nickte. Der Sohn aber bekam einen starren, aufgebrachten Blick. Ganz trostlos war ihm zumute wie bei einem Abschied. Wenn das Studium und die gepflegte Sprache in der Benediktiner-Abtei irgendwelchen Rest hinterlassen hätte, so möchte er vielleicht große schwingende Jünglingsworte von sich geschwätzt haben, daß Fuhrwerk, Vieh und die freie Weide sein liebstes wären, daß er möcht pflügen und dreschen mit strenger Faust, die lebfrischen Öchslein aufzügeln und die feist gemästeten Schweine stechen und vierteln in stattlicher Zahl. Denn wie in der Natur allerorts Leben und Tod, Mitgefühl und Brutalität einander die Waage halten, so geschah es auch in dem sehr natürlichen Vorstellungskreis dieses halbwüchsigen Buben. Nur daß ihn gerade im Zustand hilfloser Abwehr und Not das krasseste Bild am meisten anzog. Es war wirklich wie ein Abschied. Vergeblich tappte er nach einem Wort, das ihn erlösen sollte. Sein Gesicht wurde rot bis ins Stirnhaar. Seine Augen wurden dunkel vor Trotz. Er sagte, einen Schritt vortretend, ganz heiser:
»Herr Vater, ich kunnt aber schon ein Öchsel schlagen!« Mit diesem Schritt fing sein eigenstes Leben an. Bisher war er ein Kind gewesen mit unbewußtem und triebhaftem Eigensinn. Der Stralz horchte auf. Er verstand vollkommen, daß diesem harmlosen Knabenhirn, noch weit entfernt von Habgier, nur um den Beruf zu tun war. Er selbst jedoch dachte an das Erbe. Und weil er stets gerecht und im Sinn seiner Zeit handelte, so konnte er nichts anderes denn sagen: »Es kömmt dem Matthäus zu, weil er der Ältere ist.«
Matthäus schaute von der blauen Luft zurück ins Zimmer und hatte keinen Dunst davon, was für ihn Großes und Bedeutendes getan werde. Nein, er hörte es wie eine pure Selbstverständlichkeit, daß er vom nächsten Tage an müsse in der Fleischbank sein, und war auch vollkommen zufrieden darüber.
Hierauf gab der Stralz seinen Söhnen einen Wink, und sie konnten gehn. Regina riß hastig die Tür auf und war zuerst draußen. Und indem die peinliche Unterredung sehr ruhig und, wie ihr schien, auch bestens verlaufen war, stach sie der Hafer, und sie spöttelte über den Matthäus, daß er kein Studierter mehr sei, sondern ein geschmierter Lehrbub.
Der große Kerl reckte sich noch größer aus, warf die Lippen grausig und schaute auf das bläßliche Schulmeisterdirndel herab wie weiland der Ritter Golo auf den Schmerzensreich.
»Meine Studiertheit«, sagte er, »macht mir keiner nach im Dörfel. Und das Lateinische schon gar nit.«
»Ui jegerl!« meinte das Kind, aber doch weniger herausfordernd.
»Kann’s dein Vater?« erkundigte sich Matthäus.
»Freilich, in der Kirchen.«
»Versteht er auch alles?«
»Das weiß ich nit!« wispelte sie bescheiden.
»O je!« trumpfte Lukas, und der Respekt vor sich und den Brüdern nahm merklich zu. Markus, der noch vor wenig Augenblicken wie ein Küchlein tief erschrocken aus der Eischale der Kindheit gespäht hatte, war nun wieder wohlig geduckt und bestrebte sich zu krähen wie ein Hahn.
»Du«, sagte er zum Großen, »du redst ihr Lateinisch für, und ich werd’s austeutschen.«
»Also«, hub Matthäus an. Hernach aber entstand eine beträchtliche Pause. Es war leidig, daß ihm gar nichts einfiel. Dem Dirndel zuckte schon der Mund, als ob es lachen wolle. Da sprach der findige Lukas väterlich und nachsichtig:
»Gelt, du weißt nit einmal, was dein Taufnam bedeut’!«
»Was wird er denn bedeuten?« sagte sie, die Achseln schupfend.
»Was Schönes«, verriet Markus, mehr nicht.
»Gar