1925 machte sich Vater selbstständig als Tapezierer, Polsterer und Dekorateur-Meister. So nannte sich damals das Berufsbild. Seine erste Werkstatt war unser Keller im Haus. Der Hauswirt Lange stellte uns dann für unsere Kohlen ein kleines, fensterloses Verließ unter der Treppe zur Verfügung. Als nächste Werkstatt wurde im Hof eine Bretterbude gebaut; das war schon etwas komfortabler. Ein großes Holzschild mit dem Firmenzeichen wurde außen am Fenster der Stube angebracht.
Vater malte auch sehr gut. Er besuchte Kurse in der Akademie (Perspektivisches Zeichnen, Aktzeichnen usw.) bei den Professoren Pfeiffer und Mauersberger. Oft fuhr er am Wochenende mit Rad und Staffelei in die Umgebung und malte nach der Natur. Er schuf Linolschnitte und auch Federzeichnungen sowie Ölbilder; das waren meist Aufträge und sie wurden verkauft. Familie Stein erwarb ein Ölbild von Rothenburg ob der Tauber. Ich sah das Bild in Steins Stube hängen und wollte es gern zurückkaufen. Onkel Otto und Tante Lene erfüllten meinen Wunsch; sie schenkten mir das Bild später zur Hochzeit.
Einmal hatte ich einen bösen Furunkel an der Nase. Als der gute Dr. Liebmann ihn schneiden musste, sagte ich keinen Ton. Als er aber den Eiter ausdrücken wollte, rannte ich um seinen Behandlungstisch. „Halten Sie doch das Kind endlich mal fest!“, sagte er zu Mutter. Und dann klappte es, nur meine Nase war fast völlig mit Pflaster verklebt. Ich ging natürlich trotzdem zur Schule, hätte ja sonst etwas verpasst!
Dann kam ich in die Sprachklasse, die sich „Höhere Abteilung“ nannte. Nach dem 11. und 12. Schuljahr wurde die Mittlere Reife erworben. Nach zwei erfolgreichen Jahren mit Herrn Bemmann musste er unsere Klasse an Fräulein Weber abgeben. Sie kam neu an die Schule; viel später erst erfuhren wir, dass sie strafversetzt wurde.
Gleich in der ersten Stunde hatte ich es mit ihr verdorben. Ich musste auf eine Frage antworten und tat dies kurz und bündig, so wie wir es von Herrn Bemmann gewohnt waren. Dann kam: „Bitte etwas ausführlicher“. Ich erweiterte die Antwort und prompt hieß es: „Bitte noch ausführlicher, das reicht mir noch nicht“. Da platzte ich heraus „Ich kann doch nicht bei Adam und Eva anfangen!“ Die Retourkutsche kam dann bei einer Englischarbeit. Ich schrieb souverän und Irmgard, meine Nachbarin, schaute auf meine Arbeit. Fräulein Weber nahm uns sofort die Hefte weg; beide erhielten wir eine 5 mit dem Vermerk: „Isolde Christl erhielt diese Note, weil sie bei der Nachbarin abguckte“. Unsere Väter mussten unterschreiben.
Die „Webern“ hatte in ihrem Schrank unter ihrem Hut eine Trylisinflasche, ein Haarpflegemittel. Wir trieben Unsinn: Schranktür öffnen, die Flasche herum gezeigt. Da kam die Webern zur Tür herein; der Schrank war auf. Ich ging von meinem vorderen Platz hinter, um ihn zu schließen. Darauf erhielt ich wieder eine Strafarbeit. Ich sollte darunter schreiben, weshalb ich sie erhielt, von meinem Vater unterzeichnet. Ich schrieb: Isolde Christl erhielt diese Strafarbeit, weil sie, als Fräulein Weber hereinkam, die Schranktür zumachte; darunter Vaters Anmerkung: „Ist das so schlimm? – Paul Christl“.
Eine gute Tat schaffte Fräulein Weber jedoch: Wir erhielten alle ein Aufsatzthema: „Unsere Heimatstadt Leipzig“. Jede von uns schrieb über einen anderen Bereich, die meisten in Anlehnung an den Beruf ihres Vaters. Diese Aufsätze wurden in einer Mappe gesammelt und sind ein geschichtlich wertvolles Zeitdokument. – Fräulein Weber wurde wieder strafversetzt und nahm unsere Aufsätze mit. Wir erhielten im 8. Schuljahr erneut unseren Herrn Bemmann als Klassenlehrer. Im Englisch-Unterricht begannen wir da, wo wir im Jahr zuvor aufgehört hatten. Doch wir schafften das doppelte Pensum spielend.
Nach Jahren besuchte ich Fräulein Weber und bat sie, mir die Aufsätze für ein Klassentreffen zu leihen. Ich gab sie ihr später nie zurück. Sie existieren noch heute.
Einmal war ein Pflichtbesuch im Kino angesagt. Alle Klassen waren schon fort; nur wir warteten auf einen Lehrer, der uns ins Kino begleiten sollte. Ich regte an, dass wir uns vor dem Zimmer ordentlich aufstellten, wie es damals üblich war. Da kam unser Rektor Busch, ein Nazi, der sich auch sehr gern in Uniform zeigte. Er fragte, wer das Antreten angeordnet hatte. Ich meldete mich sofort. Ein anderer Lehrer führte die Klasse ins Kino. Ich aber musste mit in sein Zimmer und nach einer kleinen Vorlage das Sächsische Wappen mit dem Rautenkranz sowie das Leipziger Wappen mit dem Löwen in einer ganz bestimmten Größe zeichnen. Das war eine Aufgabe für mich, die ich gern erledigte. Die beiden Wappen waren mir auch sehr gut gelungen. Die großen Jungen wurden im Werkunterricht angewiesen, die Zeichnungen auf Holz zu übertragen und auszusägen. Nachdem sie die richtige Lackfarbe aufgetragen hatten, wurden die Wappen im Flur aufgehängt. Ich stellte fest, dass sie noch viele Jahre vorhanden waren; ja, ich war sogar ein wenig stolz darauf.
Die beiden letzten Schuljahre mit unserem hochverehrten Herrn Geißenhöner sind noch in sehr guter Erinnerung. Wir wären nie auf den Gedanken gekommen, ihm einen Streich zu spielen. Er war ein wunderbarer Pädagoge und führte uns auch in die klassische Musik ein. Wer sich interessierte, erhielt von ihm eine Konzertkarte; auch ich kam öfter in diesen Genuss. Er machte aus unseren 28 Mädchen einen sehr guten Chor.
Wir traten einmal gemeinsam mit dem Schönefelder Männergesangverein, dessen Leiter er war, im Tanzlokal „Sächsischer Hof“ in Schönefeld auf. Das Konzert war sehr gut besucht. Die Männer trugen deutsche Wald- und Jagdlieder vor und wir sangen „Lieder aus aller Herren Länder.“ Wir hatten große Schilder angefertigt, eines mit den Ländernamen und das andere mit dem Titel des jeweiligen Liedes. Wir waren sehr stolz auf den großen Applaus. Zum Abschluss war noch Tanz; wir 16-jährigen Mädels durften bleiben (unsere Eltern waren auch anwesend). Unser Turnlehrer Herr Hering brachte uns das Tanzen bei. Margot Walter war sogar schon in der Tanzstunde gewesen. Unsere Freunde aus dem Turnverein, die wir vorsichtshalber eingeladen hatten (wir wollten ja keineswegs „sitzenbleiben“), brauchten wir gar nicht, denn wir hatten immer Tänzer.
Wenn Weihnachten war, gab es stets viel Geheimnisvolles um uns herum. Wir mussten in die Küche gehen. In der Stube wurde alles aufgebaut und der Weihnachtsbaum wurde geschmückt. Wir warteten gespannt auf das Klingeln der kleinen Glocke, die Vater aus dem Krieg vom Minensuchboot mitgebracht hatte. Endlich war es soweit, die Glocke erklang und wir durften in die Stube. Die Kerzen am Weihnachtsbaum erstrahlten. Vater spielte Weihnachtslieder auf seiner Geige, die den Krieg auf dem Boot miterlebt hatte, und die ganze Familie sang dazu.
Wir bekamen unsere Plätze mit den Geschenken angewiesen. Aufgebaut war bei Hans der kleine Kaufladen und bei mir die Puppenküche mit Küche, Schlafzimmer und Bad. Im Bad konnte die Wanne mit Wasser gefüllt werden. Außen war ein Behälter angebracht und an der Wanne gab es einen Wasserhahn. Die Möbel in der Küche stammten noch aus Mutters Kindheit. Der Schrank war so groß, dass er den Rand der Küche überragte. Dafür passte aber auch viel Geschirr hinein, auch davon war vieles noch von Mutter. Natürlich gab es in der Küche auch eine Wasserleitung mit „richtigem Wasser“.
Als wir einige Jahre älter waren, erhielt ich zu meiner Puppenküche einen Spirituskocher, der nur im Beisein von Vater benutzt werden durfte. Da wurde gekocht und gebraten: Aus Rosenkohl fabrizierte ich Krautwickel, die Hans sogar verspeiste. Dafür wurde meinem Püppchen genehmigt, im Zug von Hans` Eisenbahn mitzufahren. Die Eisenbahn wurde auf den Tapeziertafeln aufgebaut. Die Lok hatte einen Schlüssel, mit dem sie aufgezogen werden konnte. Die Schienen hatten eine große Spurweite und entsprechend groß waren die Lok und die Wagen. Das Schienennetz war lang, hatte eine Kreuzung und Weichen, die per Hand bedient werden mussten. Man konnte damals Modellierbogen kaufen, aus denen die schönsten Häuser, Bahnhöfe, Schulen usw. gebastelt wurden. Beteiligt waren Vater und wir Kinder. Wir schnitten sorgfältig aus, falzten und klebten mit Begeisterung.
Unser ganzes schönes, oben genanntes Spielzeug wurde in Vaters Werkstatt in die Karl-Härting-Straße ausgelagert, als unsere Bodenkammern geräumt werden mussten. Es waren dort Lattenverschläge aus Holz, die im Krieg aus