Umfang der Rebflächen
Die Größe und Anzahl der Maischebecken erlauben Rückschlüsse auf den Umfang der Rebflächen, die den einzelnen Kelterhäusern zuzuordnen sind. Lag wie in Noviand, Lösnich oder Rachtig nur ein Maischebecken vor, konnte es während einer vierwöchigen Leseperiode vielleicht acht- bis zehnmal gefüllt werden. Daher ist bei diesen Anlagen von einer geringeren Ausnutzung der Becken auszugehen, zumal für den Zeitraum, in dem die Trauben im Becken maischten, kein neues Lesegut eingebracht werden konnte, es sei denn, Holzbehälter hätten als Zwischenlager gedient. Bei Kelterhäusern mit mehr als einem Maischebecken wie in Piesport, Brauneberg, Lieser und Erden war dagegen ein kontinuierliches Lesen und somit eine häufigere Befüllung der Becken (12- bis 14-mal) möglich. Columella (De re rustica III, 3,11) betonte, dass Rebflächen, die auf das iugerum (einem von einem Jochgespann in einem Tag zu bestellenden Areal; entspricht 2.523 m2) weniger als drei cullei (1 culleus [eigentlich Schlauch, Sack] = 524 l) Wein liefern, auszureißen sind. Dabei bezog er sich aber ausdrücklich auf Italien und klammerte die Provinzen aus. Daher ist in Gallien sicherlich von einer geringeren Durchschnittsernte auszugehen. An anderer Stelle hält er fest, dass selbst Weinpflanzungen minderwertigster Qualität bei hinreichender Pflege pro iugerum einen culleus Wein erbringen sollten. Daher werden die Hektarerträge in den gallischen Provinzen einerseits deutlich unter 6.000 l, andererseits aber merklich über 2.000 l gelegen haben.
Noch um 1900 beliefen sich die durchschnittlichen Hektarerträge an der Mosel auf rund 2.500 l, wobei die Menge damals durch Schädlinge oder Krankheiten erheblich eingeschränkt war. Das Mittelmaß der von Columella genannten Zahlen, etwa 4.000 l geernteter Wein pro Hektar, sollte daher den römerzeitlichen Durchschnittserträgen im Moseltal recht nahe kommen. 4.000 l Wein entsprachen bei den damaligen Pressmethoden je nach Jahr etwa 5.500 – 6.000 l Maische. Legen wir die Kapazität der Maischebecken und ihre Nutzungsmöglichkeiten zugrunde, können wir der Piesporter Kelter eine Rebfläche von mindestens 76 Hektar zuordnen. Zur Kelter von Lieser gehörten vielleicht sogar 80 Hektar, zu der von Graach deutlich mehr als 38 Hektar, zu den beiden Anlagen von Brauneberg und Erden über 30 Hektar, zu jener von Lösnich knapp 14 Hektar, zu der von Müstert rund 10 Hektar und zu der von Noviand etwa 9 Hektar. Diese Berechnungen basieren auf der Verarbeitung weißer Trauben. Bei Rotwein müssen wir wegen des längeren Maischeprozesses von einer geringeren Fläche ausgehen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Empfehlung Columellas (De re rustica III, 21, 10), unterschiedliche Rebsorten zu pflanzen, die nicht gleichzeitig zur Reife gelangen. Die Weinberge müssten dann nicht in kürzester Zeit abgeerntet werden, und die Besitzer wären nicht genötigt, Erntearbeiter um jeden Preis anzuheuern. Eine sich über mindestens vier bis sechs Wochen erstreckende Lese dürfte daher auch in den gallischen Weinbaugebieten keine Seltenheit gewesen sein.
Die für Piesport angenommene äußerst umfangreiche Rebfläche bildete, einschließlich der benachbarten von Ferres und Müstert, wohl eine der größten zusammenhängenden Rebflächen nördlich der Alpen. Offenbar war Ausonius, als er bei seiner Reise von Bingen über den Hunsrück nach Trier um 370 n. Chr. gegenüber von Piesport das Moseltal erreichte, gerade beim Anblick dieser Rebflächen zu den schwärmerischen und viel interpretierten Versen (152 – 156) seiner »Mosella« verleitet worden, die hier in einer metrischen Übersetzung von Wolfgang Binsfeld wiedergeben werden:
Jetzt eröffn’ einen anderen Festzug
das Schauspiel der Reben,
und erfreue den schweifenden Blick
der Gabe des Bacchus:
dort wo die krönende Kuppe
in langem Zug überm Steilhang,
dort wo Felsen und sonniger Grat
in gewundenem Bogen
weinstockbesetzt sich erhebt,
ein natürlich entstand‘nes Theater.
Die Verse lassen wie die Lage der einzelnen Kelterhäuser erkennen, dass die Rebflächen in römischer Zeit primär in klimatisch begünstigten Steilhängen angelegt waren, wobei man sich wohl auch kleinerer Terrassen bediente. Das bedeutet, dass sich der Terrassenanbau nicht, wie von der mittelalterlichen Geschichtsforschung vermutet, erst im 11./12. Jh. ausbreitete, sondern auf wesentlich ältere Traditionen zurückging.
Rebsorten
Erinnern wir uns an Columellas Rat, nicht gleichzeitig zur Reife gelangende Rebsorten zu pflanzen, ist ein Nebeneinander von Rot-und Weißwein wahrscheinlich. Da Rotweintrauben in der Regel früher geerntet wurden, konnte man Engpässe bei Erntearbeitern umgehen, aber auch Verluste bei später zur Reife gelangenden Sorten durch eventuelle Herbstfröste mindern. Anhaltspunkte für Rot- und Weißwein bieten auch erhaltene Farbreste an Steindenkmälern aus Lörsch und Neumagen.
Zu den Rebsorten selbst lassen sich derzeit noch keine präziseren Angaben machen, obwohl aus den meisten Kelterhäusern mitunter zahlreiche verkohlte Traubenkerne vorliegen. Sicher scheint jedoch, dass die Kerne vorwiegend zu Übergangsformen und nur in wenigen Fällen zu Wild- oder Kulturreben gehörten. Dies könnte bedeuten, dass bei der Anlage der Rebflächen auch weiterentwickelte einheimische Wildreben berücksichtigt wurden und der Import von Reben aus dem Mittelmeerraum nur eine untergeordnete Rolle spielte.
Weißwein dürfte jedoch dominiert haben. Dennoch lassen Kerne von Schwarzem Holunder, Kirschen, Brom- und Himbeeren sowie Schlehen in einigen Kelterhäusern auch an die Verarbeitung von Rotwein denken, da insbesondere der dunkelrote Saft vom Schwarzen Holunder wegen seiner Farbintensität dem Rotwein eine kräftigere Farbe verliehen haben dürfte. Ausnahmen bildeten die beiden großen Keltern von Piesport und Graach. Die Verarbeitung des Holundersaftes zu Holunderwein ist wegen seines geringen Zuckergehaltes für die Römerzeit jedoch auszuschließen, da man, um ihn genießbarer zu machen, relativ große Mengen an Honig benötigt hätte. Daher sollte der Saft nur als Schönungsmittel für den hiesigen Rotwein Verwendung gefunden haben. Zu erwägen wäre auch, ob nicht die Holunderbeeren zunächst getrocknet und erst danach der Rotweinmaische zugesetzt wurden. Möglicherweise hatte man dem Most oder Wein in beiden Erdener Kelteranlagen noch Hanf und in der großen Kelter von Piesport in geringen Mengen auch Mohn zugesetzt, vermutlich um die berauschende Wirkung des Weines zu verstärken.
Betreiber der Kelteranlagen
Die kleineren Kelterhäuser von Lösnich oder Noviand bildeten Nebengebäude von Gutshöfen. Sie sind daher wohl als private Anlagen zu sehen. Sie wiesen auch nur je ein Maische-, Press- und Mostbecken auf, sodass ein permanentes Keltern nicht möglich war. Außerdem lagen die zugehörigen Rebflächen nur teilweise in unmittelbarer Umgebung, in Lösnich sogar mehr als 1,5 km entfernt. Dagegen wurden die großen Kelteranlagen von Piesport, Brauneberg, Lieser, Graach oder Erden am Fuße steilerer Südhänge im Bereich von Weinbergen bester Qualität errichtet, ohne, dass im Umfeld weitere Gebäude nachgewiesen werden konnten. Sie waren reine Zweckbauten inmitten der zu bewirtschaftenden Fläche. Lediglich das Erdener Kelterhaus, das zweigeschossig war, bot vielleicht bescheidene Wohnmöglichkeiten für Arbeiter. Ihr Umfang und einige charakteristische Kleinfunde wie staatliche oder militärische Ziegelstempel und Beschlagteile von Gürteln höher gestellter Beamter oder Militärs ermöglichen es, diese Kelteranlagen primär staatlichen Betreibern zuzuordnen. Dafür spricht auch, dass sie wohl erst um 300 n. Chr., also mit der Verlegung der Kaiserresidenz nach Trier und der Errichtung der gallischen Präfektur, entstanden sind, nachdem zuvor in besseren Weinlagen kleinere Betriebe zu Domänen zusammengeführt worden waren. Insbesondere die östliche Brauneberger Kelter, jene von Müstert und Teile des Erdener Kelterhauses scheinen im 3. Jh. n. Chr. zunächst von privater Seite genutzt worden zu sein, ehe sie um 300 n. Chr. von staatlicher Seite übernommen, erweitert oder in größere Anlagen integriert wurden. Da die großen Kelteranlagen in unmittelbarer Nähe zur Mosel errichtet waren, konnte der dort erzeugte Most regelmäßig mit dem Schiff nach Trier in die Keller (horrea) des Kaiserhofes