Dawa antwortete nicht sofort, machte einen Schritt auf die Stelle zu und blieb wieder stehen, ohne den Blick abzuwenden. Christopher trat neben ihn und erkannte ein kleines Loch im Eis, aus dem ausschließlich Finsternis drang.
»Was ist das?«, fragte er und ging noch etwas näher.
»Pass auf!«, warnte Dawa. »Die Eisdecke könnte einstürzen.«
»Wie kommst du darauf?«
»Ich vermute, unter uns befindet sich ein großer Hohlraum.«
»Woran erkennst du das?«
»An der Akustik. Hör genau hin!« Dawa schnalzte kurz mit der Zunge und wartete einen Augenblick. »Hast du es gehört?«
»Ja.« Kurz nachdem Dawa das Geräusch erzeugt hatte, drang aus dem dunklen Loch ein schwacher Hall an seine Ohren.
»Wenn wir uns auf den Boden legen, können wir uns näher heranbewegen.« Dawa machte den Anfang und robbte langsam auf das Loch zu. Christopher folgte ihm vorsichtig.
Das Loch war etwa einen halben Meter hoch, dafür aber mehr als doppelt so breit. Nebeneinander krochen sie langsam hinein, immer darauf bedacht, den Boden auf seine Stabilität zu prüfen. Als der Gang zu Ende war, stellten sie fest, dass das Licht ihrer Stirnlampen auf keine Hindernisse traf. Sie waren anscheinend zu schwach, um diesen Hohlraum ausleuchten zu können.
Christopher gab einen Laut von sich und erschrak über den langen, aber leisen Widerhall, den er vernahm.
»Die muss riesig sein«, sagte Dawa beeindruckt.
»Riesig scheint nur der Vorname zu sein.«
»Das ist sehr eigenartig.«
»Warum meinst du?«
»Hohlräume in Gletschern entstehen, wenn sich die Eismassen bewegen. Das tun sie meistens ruckartig, wenn der Druck oder die Spannung zu groß wird. Die Hohlräume, die dadurch entstehen, sind für gewöhnlich nicht so groß.«
»Willst du damit sagen, dass dieser Hohlraum aus einem anderen Grund entstanden ist?« Christopher blickte seinen Freund von der Seite fragend an.
»Ja.«
»Was glaubst du, wie diese Höhle entstanden ist?«
»Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Aber sie liegt nicht, wie ich zuerst vermutet hatte, unter uns, sondern vor uns.«
»Wie kommst du darauf?«
»Achte mal auf die Fläche vor uns.«
»Sie ist spiegelglatt. Das ist allerdings sehr merkwürdig.“
»Alles deutet daraufhin, dass dies irgendwann mal ein unterirdischer See war, der jetzt zugefroren ist. Bei den hier herrschenden Temperauren muss das Eis sehr stabil sein.«
»Du meinst, wir könnten problemlos darauf gehen.«
»Ich glaube schon.«
»Du bist dir aber im Klaren darüber, dass uns hier niemand findet, wenn wir einbrechen und nicht mehr rausfinden.«
»Ich bin überzeugt, dass dies nicht passieren wird. Wir werden uns aber trotzdem gegenseitig absichern. Ich werde zurückgehen und die Seile holen.«
Kurz darauf war Dawa verschwunden. Christopher versuchte mit seiner Stirnlampe, verschiedene Bereiche der Höhle auszuleuchten, was ihm jedoch wegen deren Größe kaum gelang. Doch in einiger Entfernung glaubte er, das Glitzern einer Spiegelung wahrgenommen zu haben. Erneut versuchte er, den Lichtstrahl in diese Richtung zu lenken und konnte kurz darauf dieselbe Lichtreflektion erkennen.
Wenig später kam Dawa mit Seilen und einer Teleskopstange zurück. Letztere befestigte er vor dem Einstieg des Durchgangs und band das eine Ende eines der Seile daran. Das andere Ende reichte er Christopher, der es sich sogleich um die Hüften schnürte. Dawa tat es im mit dem zweiten Seil gleich.
»Ich werde zuerst gehen, während du mein Seil hältst«, sagte Christopher.
»Dasselbe wollte ich gerade umgekehrt vorschlagen.«
Christopher lächelte seinen Freund an, drehte sich um und kroch in die Höhle hinein, genau in die Richtung, in der er die Spiegelung gesehen hatte. Um die Stabilität des Eises zu prüfen, schlug er in regelmäßigen Abständen mit dem Eispickel Löcher in den Boden. »Du kannst nachkommen«, rief er seinem Kameraden zu. »Das Eis ist hier sehr dick und stabil.«
Als Dawa neben ihm auftauchte, hatte sich Christopher bereits aufgerichtet und beleuchtete den Boden.
»Siehst du, wie dunkel das Eis ist. Das zeugt von einer sehr hohen Dichte. Für einen Einsturz besteht keine Gefahr.«
Christophers Aufmerksamkeit galt jedoch etwas ganz anderem.
Dawa schien dies zu bemerken. »Was ist das?«
»Die Spiegelung ist mir vorhin schon aufgefallen.« Christopher machte ein paar Schritte und blieb wieder stehen. Die Reflektion hatte sich verstärkt. Er richtete den Lichtstrahl langsam nach oben. Erneut machte er einige Schritte auf das Objekt zu.
»Sei vorsichtig«, hörte er Dawas Stimme hinter sich. Kurz darauf hatte er ihn eingeholt und stand neben ihm. »Was ist das denn?« Nun galt auch Dawas Aufmerksamkeit dem Objekt vor ihnen.
Als sich Christopher erneut vorwärts bewegte, hatte er nur noch das Objekt im Blickfeld. Er spürte, dass Dawa sein Seil straff hielt, um ihn abzusichern. Doch dies wäre nicht nötig gewesen, da der eisige Boden extrem hart und stabil war. Mit jedem Schritt glaubte Christopher, dem Objekt näher zu kommen, doch dann musste er feststellen, dass er sich gewaltig getäuscht hatte. Die Distanz hatte sich anscheinend kaum verändert.
»Ich verstehe das nicht«, sagte er, als Dawa ihn erneut eingeholt hatte. »Nun haben wir doch schon eine ganz schöne Strecke in dieser Höhle zurückgelegt, aber mir scheint, dieses Objekt ist immer noch gleich weit entfernt.«
»Das ist eine optische Täuschung«, antwortete Dawa. »Es ist viel größer, als wir es eingeschätzt hatten. Die Höhle selbst ist auch viel höher, als wir gedacht hatten. Schau mal nach oben. Unser Licht reicht nicht bis zur Decke.«
»Du hast recht.«
Nach wie vor den Boden prüfend, gingen sie nun gemeinsam vorwärts. Zwischendurch drehten sie sich um und stellten irgendwann fest, dass sie den Höhlenausgang nicht mehr erkennen konnten.
Plötzlich waren die Seile zu Ende. Sie sahen sich fragend an.
»Ich werde zurückgehen und mein Seil lösen«, sagte Dawa spontan und machte sich auf den Weg. Als er wenige Minuten zurückkehrte, spürte Christopher, dass sein Seil wieder nachgab. »Ich habe mein Seil an deines geknüpft. Auf diese Weise haben wir die doppelte Länge zur Verfügung. Ich werde mich einfach bei dir einhaken.«
Zuversichtlich gingen sie weiter bis sich das Seil erneut anspannte. Sie hatten sich dem Objekt zwar ein gutes Stück genähert, waren jedoch immer noch nicht nahe genug, um zu erkennen, um was es sich dabei handelte.
»Was nun?«, fragte Christopher ratlos.
Dawa hakte sich von Christopher los, nahm seine Stirnlampe ab und legte sie auf den Boden. »Binde dich los und leg das Ende des Seils neben meine Lampe. Wir werden ohne das Seil weitergehen. Wir lassen meine Lampe hier, damit wir wieder hierherfinden.«
»Bist du sicher, dass wir das tun sollten?«
»Der Boden ist stabil. Es wird uns nichts passieren.« Dawa löste Christophers Seil und legte es auf den Boden. »Wir müssen darauf achten, zusammenzubleiben.«
Einige Minuten später blieben sie stehen. Sie hatten keine Vorstellung davon, welche Strecke sie mittlerweile zurückgelegt hatten.
Aber sie hatten das Objekt erreicht.