Frühkindlicher Fremdsprachenerwerb in den " Elysée-Kitas ". Matthias Springer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Springer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823302940
Скачать книгу
zu berücksichtigen – auch wenn sie mit den eigenen mentalen Zuständen nicht übereinstimmen“.16 In der Mehrsprachigkeitsforschung hat sich bestätigt, dass „solche sozial-kognitiven Leistungen mit dem sich entwickelnden Sprachvermögen in Verbindung stehen.“17 Gudula List sieht das als einen Hinweis auf eine gegenüber Einsprachigen früher und wirkungsvoller herausgebildete Theory of Mind, denn

      bilingual bzw. mehrsprachig aufwachsende Kinder pflegen einen selbstverständlichen Umgang mit der Arbitrarität von Sprachzeichen, sie schärfen […] ihre Kontrollprozesse für selektive Wahrnehmungen und sie stellen sich früh darauf ein, die Sprachgewohnheiten ihrer Interaktionspartner zu berücksichtigen. Sie könnten also eine besondere Disposition entwickeln, zu begreifen, dass in anderen Köpfen anderes vorgehen könnte als im eigenen.18

      Diese Erkenntnis ist für die soziale Entwicklung von Kindergartenkindern insofern von Bedeutung, als sie einen Hinweis darauf gibt, dass Empathie, strategisches Sich-Hineinversetzen in den anderen und soziale Kompetenz mit dem sich elaborierenden mehrsprachigen Sprachvermögen in Zusammenhang stehen.

      Ein letzter hervorzuhebender Punkt betrifft den Zusammenhang von Kreativität und Fantasie mit der kognitiven Entwicklung. Studienergebnisse, wie die des in Israel durchgeführten Experiments Draw a flower and a house that doesn’t exist19, welches in der europäischen Mehrsprachigkeitsforschung rezipiert wurde, weisen darauf hin, dass bilinguale Kinder häufiger Zeichnungen von Fantasiebildern produzieren, wie z. B. eine „Giraffenblume“ oder ein „Stuhlhaus“. Diese Kinder zeigen, dass sie mit übergreifenden Kategorien kreativer umgehen können als monolinguale.

      Frage 2

      Sind Vorschulkinder beim Erwerb einer dritten oder vierten Sprache überfordert?

      Der Bayerische Erziehungs- und Bildungsplan sieht die ersten sechs Lebensjahre als

      die lernintensivsten und entwicklungsreichsten Jahre [an]. In diesen Jahren sind die Lernprozesse des Kindes unlösbar verbunden mit der Plastizität des Gehirns, seiner Veränderbarkeit und Formbarkeit; es wird der Grundstein für lebenslanges Lernen gelegt. Je solider und breiter die Basis an Wissen und Können aus jener Zeit ist, desto leichter und erfolgreicher lernt das Kind danach.20

      Was hier allgemein artikuliert wird, gilt insbesondere für das Erlernen von Sprachen. In diesem Sinne richten renommierte französische und deutsche Neurowissenschaftler wie Stanislas Dehaene am Collège de France, Boris Cyrulnik von der Université de Toulon-Sud, oder der Neurobiologe und Plastizitätsforscher Tobias Bonhoeffer vom Münchner Max-Planck-Institut für Neurobiologie eine dringende Empfehlung an die Bildungspolitik. Man nimmt an, dass beim Kleinkind pro Sekunde mehrere Millionen synaptische Verbindungen entstehen und auch wieder verschwinden. Die neuronale Plastizität, die zwar ein Leben lang besteht, aber in diesem Zeitfenster optimal erscheint, müsse unbedingt genutzt werden. Den Kindern müsse man in diesem Lebensabschnitt systematisch in den Kindergärten und in der école maternelle den Erwerb von mehreren Sprachen ermöglichen.21 Bereits seit mehreren Jahrzehnten ist bekannt, dass das Gehirn keine sog. ‚Sprachensperre‘ kennt; Kinder können beliebig viele Sprachen lernen.22

      Goethes Plädoyer für Mehrsprachigkeit „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen”23 greift die neuere Forschung mit dem Begriff ‚Quersprachigkeit‘ auf. Viel zitiert ist auch der Satz „Eine Sprache ist viele Sprachen“24 des österreichischen Linguisten Mario Wandruszka. Damit meint er, dass jede Sprecherin und jeder Sprecher, auch innerhalb einer Sprache, mehrere Sprachen spreche beziehungsweise auf mehreren Ebenen sprachkompetent sei, was auch als „innere Mehrsprachigkeit“25 bezeichnet wird. Hier muss man verstehen, dass eine Sprache nie als perfektes homogenes Monosystem26 betrachtet werden kann. Sprachgebrauch ist vielfältig, schichten- und gruppenspezifisch, alters- und geschlechtsspezifisch. Jedes Kind, ob mono- oder bilingual, tritt in Kontakt mit Soziolekten und Ethnolekten und schärft seine soziolinguistische Analyse, indem es lernt, diese Varianten einzuordnen. Daher setzt sich die Bilingualismus-Forschung auch mit der Frage auseinander, „ob es sich nicht auch da um Mehrsprachigkeit handelt, wo nicht eigentliche Sprachen, sondern Varietäten ein und derselben Dachsprache involviert sind.“27 Diese innere Mehrsprachigkeit ist ein weiteres Indiz dafür, dass eine äußere Mehrsprachigkeit lediglich von den kommunikativen Kontexten bestimmt wird und Quersprachigkeit fördert. Darunter versteht Gudula List, dass in mehrsprachigen Umgebungen Kinder

      eine metasprachliche Reflexion entwickeln, die Aufmerksamkeit auf sprachliche Differenzen richtet. Daraus ergib sich eine quersprachige Kompetenz: Ein fruchtbares Potential, die symbolischen Dienste unterschiedlicher sprachlicher Medien und Register zu erkennen, zwischen ihnen zu unterscheiden, sie womöglich selbst zu mischen oder wechselnd zu benutzen und quer durch sie hindurch zu handeln.28

      Gudula List veranschaulicht die Erziehung zu Quersprachigkeit mit dem französischen Didenheim-Projekt.29 Im Feld der Sensibilisierung für Plurilingualität gibt es im Französischen für den Vor- und Grundschulbereich einen methodischen Ansatz, der sich éveil aux langues nennt.30 Dieser wurde von einem europäischen Forscherteam für den Europarat entwickelt. Francis Goulier, dem vorliegendes Buch postum gewidmet ist, hat daran mitgewirkt.31

      Wenn innere Mehrsprachigkeit derart selbstverständlich ist, sollte es für Vorschulkinder ein Leichtes sein, diese kognitiven Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissensbestände auf äußere Mehrsprachigkeit zu übertragen.32 Vor diesem Hintergrund ist „Mehrsprachigkeit […] kein kognitiver Ausnahmezustand.“33 In Frankreich ist von „capacités transversales“ 34 die Rede.

      Frage 3

      Sollten sich Kinder mit fremdsprachlichem Hintergrund nicht erst die deutsche Sprache aneignen, bevor sie sich einer weiteren Fremdsprache zuwenden?

      Diese dritte Frage betrifft die Befürchtung der sog. ‚Halbsprachigkeit‘ und stützt sich auf die Schwellenhypothese der 1980er-Jahre.35 Sie spielte damals in der Debatte über den frühen Fremdsprachenerwerb eine wichtige Rolle und besagt, „dass die Erstsprache über die Schwelle eines bestimmten Niveaus entwickelt sein muss, das für schulisches Lernen disponiert, ehe der Erwerb einer zweiten Sprache sich zu einem Vorteil in der Erwerbsbiographie auswirken kann.“36

      Sie ist insofern problematisch, als sie auf einer idealisierten Auffassung von Zweisprachigkeit beruht, das bedeutet: die Entwicklung einer zweiten Sprache wird ausschließlich an eine überschätzte kommunikative Kompetenz in einer Sprecher-Hörer-Konstellation innerhalb einer Erstsprache geknüpft, die dort bereits als idealisiert gilt. Solche modellhaften wie idealisierten Konstrukte bilden aber weder im Fall von Einsprachigen noch von Mehrsprachigen die Realität der sprachlichen Interaktion ab.37 An dieser Stelle merkt Rosemarie Tracy an:

      Ein- und Mehrsprachigkeit [sind] Idealisierungen und [stellen] kein absolutes Gegensatzpaar dar. Auch die Vorstellung, die Zeit, die man mit einer Sprache verbringt, ginge einer anderen verloren, geht an den Fähigkeiten des Menschen vorbei, in sprachlicher Hinsicht vieles gleichzeitig zu tun.38

      Um diesen Idealvorstellungen entgegenzuwirken, prägte Peter Auer den Begriff der „kompetenten Bilingualität“.

      Von kompetenten Bilingualen wird nicht erwartet, dass sie sich je nach Situation in beiden Sprachen wie ein Monolingualer [ausdrücken]. Kompetente Mehrsprachigkeit [stellt] eine eigenständige, primäre sprachliche und interaktionale Kompetenz dar.39

      Wichtig hierbei ist die soziale Komponente:

      [K]ompetente Bilingualität [ist] kein Privileg der gebildeten Schichten, die es sich sozusagen leisten können, ihre erste Sprache wie Monolinguale zu sprechen, trotzdem aber auch in einer zweiten oder dritten Sprache gut zu funktionieren.40

      Die Schnupperstunde greift diese These zur sozialen Dimension kompetenter Bilingualität auf. Im Fall der vorliegenden Untersuchung zu frühem Fremdsprachenerwerb im Rahmen des Programms Elysée 2020 können derartige idealisierte Konstrukte einer quasi perfekten doppelten Einsprachigkeit, wie sie die Schwellenhypothese postuliert, nicht als Zielvorgaben zur Debatte stehen. Die Schnupperstunde Französisch zielt in ihrem Inneren auf soziale und politische Teilhabe, Bildungschancengleichheit,