Perkins sagt nicht, dass wir jeden einzelnen Bibelvers einfach in eine der beiden Schubladen einordnen können – die Verse, die uns sagen, was wir tun müssen, und die, die uns sagen, dass wir aus Gnade erlöst sind, egal, was wir getan haben – und nennt zwei Bibelverse, die beide Aspekte zusammenführen: Johannes 14,21 und 14,23.57 In Johannes 14,23 sagt Jesus seinen Jüngern: „Wenn jemand mich liebt, wird er sich nach meinem Wort richten. Mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und bei ihm wohnen.“ Hier wird ganz klar, dass das Evangelium den Gehorsam gegenüber Gott verwandelt: Aus einer gesetzlichen Methode, sich seine Erlösung zu verdienen, wird eine Reaktion dankbarer Liebe auf die bereits empfangene Erlösung. Der aus der Gnade des Evangeliums fließende Gehorsam gegenüber Gottes Gesetz will den, der uns so unendlich teuer erlöst und erkauft hat, immer besser kennenlernen und lieben, ihm Freude machen und ihm ähnlicher werden. Diese Stelle in Johannes 14 redet also weder der Gesetzlichkeit das Wort noch der Auffassung, dass vor lauter Evangelium das Gesetz gar keine Rolle mehr spielt.
Es gibt wenige Bibelstellen, die die Beziehung zwischen Gesetz und Evangelium so klar und perfekt aufzeigen, wie diese Verse in Johannes 14. Meistens steht in dem Text, über den wir predigen, entweder das Gesetz oder das Evangelium im Vordergrund, und daher müssen wir immer – immer! – den Text in den Kontext der ganzen Bibel stellen: die Botschaft des Evangeliums.
Zweieiige Zwillinge
Um dies tun zu können, müssen wir uns klarmachen, dass das gesetzliche und das antinomistische Denken beide derselben Wurzel entspringen. Da sie sich äußerlich so stark voneinander unterscheiden, halten wir sie gerne für unversöhnliche Gegensätze – und schon versuchen wir, ohne es selber zu merken, das eine Denken mit einer ausreichenden Dosis des anderen zu heilen, und diese Therapie kann tödlich sein.
Der Theologe Sinclair Ferguson analysiert das Gespräch zwischen der Schlange und den ersten Menschen in 1. Mose 3. Dabei stellt er fest, dass Gott sein Verbot, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen, nicht begründet. Er erwartet Adams und Evas Gehorsam nicht, weil er ihnen haarklein alles erklärt hat, sondern aus Liebe und Vertrauen. Sie sollen ihm „einfach so“ gehorchen – weil er Gott ist. Es geht um mehr als einen rein äußerlichen Gehorsam; es geht um eine ganz besondere Einstellung und Beziehung zu Gott, und diese Einstellung nimmt die Schlange ohne Umschweife ins Visier.
In 1. Mose 3,1 behauptet die Schlange, Gott habe den Menschen die Früchte aller Bäume in dem Garten verboten – was nicht stimmt. In V. 5 behauptet sie, dass die Übertretung des Verbotes die Menschen frei machen werde – was ebenfalls nicht stimmt. Doch die Menschen glaubten der Schlange, und ihr geistliches Gift, „die Lüge der Schlange“, hat unsere ganze Seele verseucht mit ihrer Behauptung, dass Gott „ein tyrannischer, selbstsüchtiger Egoist“58 sei, der uns nichts Gutes gönne. Wenn ihr Gott gehorcht – so die Logik der Schlange – werdet ihr eures Lebens nicht mehr froh. Ferguson schreibt:
Die Lüge war ein Frontalangriff auf Gottes Großzügigkeit und Integrität. Angeblich waren weder Gottes Worte noch sein Wesen vertrauenswürdig. Dies ist die große Lüge, der seitdem alle Sünder glauben – das Zerrbild von dem falschen Gottvater, dem man nicht vertrauen kann, weil er uns nicht liebt.59
Diese Lüge ist als der Normalzustand des Herzens „in den Blutkreislauf des Menschengeschlechts eingedrungen“, sie sitzt „in den tiefsten Tiefen der menschlichen Psyche“60. Seit dem Sündenfall ist es die Grundeinstellung des menschlichen Herzens, dass wir – ob wir nun seine Gebote befolgen oder nicht – es Gott nicht abnehmen, dass er es gut mit uns meint.
Und nun geht Ferguson weiter und kommt zu einer höchst bemerkenswerten Beobachtung: Diese Lüge der Schlange – dass Gott es angeblich nicht gut mit uns meint und man ihm daher besser nicht vertraut – ist die Wurzel sowohl der Gesetzlichkeit als auch des Antinomismus, die „zweieiige Zwillinge“ sind, „die beide aus demselben Schoß gekrochen sind“61. Die Gesetzlichkeit entspringt aus dem Glauben, dass wir mit allen möglichen Übungen und Leistungen versuchen müssen, Gott seinen Segen, den er uns eigentlich nicht gönnt, abzuluchsen. „Das Wesen der Gesetzlichkeit wurzelt … in einem Zerrbild von Gott. … Gott wird der große Polizist, der uns sein Gesetz gibt, weil er uns alle Freude wegnehmen will.“62 Der Antinomismus geht von demselben Zerrbild aus. Beide – die Gesetzlichkeit und der Antinomismus – sehen in Gottes Gesetz nicht einen Ausdruck seiner Gnade und Liebe zu uns, sondern eine Zwangsjacke bzw. ein notwendiges Übel zur Besänftigung eines Gottes, der uns nicht liebt. Beide Denkweisen wissen nichts von der Freude des Gehorsams. Beide sehen Gottes Gebote als eine harte Last und Gott selber als jemanden, dessen Liebe an Bedingungen geknüpft ist und dem man jeden kleinen Segen abtrotzen muss. Der einzige Unterschied zwischen ihnen ist, dass der gesetzliche Mensch die Last widerwillig auf sich nimmt, während der Antinomist sie kurzerhand abwirft. Doch beide sehen Gott im selben Licht. Ferguson kommt zu dem Schluss:
In der Gesetzlichkeit offenbart sich im Grunde ein Herz, das Gott durch eine Zerrbrille betrachtet, … die … seine heilige Liebe verdunkelt. Dies ist eine tödliche Krankheit. … Und dasselbe Gotteszerrbild … liegt dem Antinomismus zugrunde.63
Was hat das nun mit unserer Predigt zu tun? – Wenn ich glaube, dass Gesetzlichkeit lediglich eine Überbetonung der Gebote Gottes ist, werde ich das Heilmittel darin sehen, weniger über den Gehorsam zu predigen und mehr über Gottes Vergebung und Erlösung. Und wenn ich im Antinomismus lediglich eine zu laxe Einstellung zu Gesetz und Moral sehe, werde ich glauben, dass ich halt weniger über Gottes unverdiente Gnade reden muss und mehr über seine Gerechtigkeit und heiligen Gebote. Kurz: Man versucht, die eine Krankheit mit einer ausreichenden Dosis vom Erreger der anderen Krankheit zu bekämpfen. Das Desaster ist vorprogrammiert, denn beide Krankheiten haben dieselbe Grundursache. Beide kommen sie aus der Annahme, dass Gott uns nicht wirklich liebt und uns nichts Gutes gönnt; beide sind sie blind dafür, dass „sowohl das Gesetz als auch die Gnade ein Ausdruck von Gottes Güte ist“64. Für den gesetzlichen Menschen wie für den Antinomisten geht es bei dem Gehorsam gegenüber Gottes Geboten lediglich darum, etwas von Gott zu kriegen, und nicht darum, ihn selber zu bekommen – ihn zu erkennen und zu lieben, sich über ihn zu freuen und ihm ähnlicher zu werden, einfach weil er Gott ist.
Gottes Gesetz ist eigentlich als Schutzzaun für unser Leben gedacht und als Anleitung, zu uns zu finden und Gott zu gefallen. Weil die Gesetzlichkeit Gottes Liebe und Gnade nicht begreift, macht sie daraus ein ermüdendes System der Selbsterlösung, durch das wir Gott dazu kriegen, uns zu segnen. Um von diesem System frei zu werden, reicht es nicht, an den abstrakten Satz „Gott hat mich angenommen und mir vergeben“ zu glauben. Wir werden erst frei, wenn wir die Güte Gottes und seine Liebe in Jesus Christus, die ihn so viel gekostet hat, ganz neu begreifen.
Da der Antinomismus von Gottes Liebe und Gnade ebenfalls nichts weiß, sieht auch er in dem Gesetz ein Hindernis zur Freiheit und zum persönlichen Wachstum und nicht das große Mittel, durch das Gott uns in diese Freiheit und dieses Wachstum führt. Es ist daher falsch, den Antinomismus damit bekämpfen zu wollen, dass man den Menschen Gottes unerbittliche Heiligkeit und Gerechtigkeit um die Ohren schlägt; dergleichen benutzt unser Herz nur als Bestätigung der Lüge der Schlange, dass Gott ein unerbittlicher Despot ist, der uns nichts gönnt. Stattdessen gilt es, Gottes kostbare Retterliebe in Jesus Christus (der mit seinem Leben und Tod Gottes gerechtes Gesetz voll und ganz erfüllt hat) in ihrer ganzen Tiefe zu sehen und zu begreifen. Ferguson kommt zu dem Schluss, dass beide – Gesetzlichkeit und Antinomismus – im Grunde die gleiche Therapie brauchen: eine neue Sicht der Schönheit Gottes und seiner herrlichen Gnade, die ihn so viel gekostet hat und die jedem von uns offensteht. Das Heilmittel für die Gesetzlichkeit wie für den Antinomismus ist das Evangelium. Ferguson schreibt:
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