Die Bibel ist wie ein Löwe, sagt Spurgeon, und deshalb ist es nicht nötig, sie dauernd zu verteidigen oder mit klugen Argumenten zu zeigen, warum man ihr glauben sollte. Richtig ist, sie ganz einfach zu predigen – die Menschen direkt und lebendig mit ihr in Kontakt zu bringen. Dann wird die erstaunliche Kraft und Autorität des Wortes Gottes sich von selber entfalten – selbst in der antiautoritärsten Umgebung und unter den größten Skeptikern. Das stimmt; ich habe es selber erlebt.
Kapitel 2
Das Evangelium predigen – immer52
Wenn jemand gehorsam ist, weil ihn die Angst vor dem im Gesetz geoffenbarten Zorn Gottes antreibt und nicht der Glaube an Gottes im Evangelium geoffenbarte Liebe ihn lockt, wenn er Gott wegen seiner Macht und Gerechtigkeit fürchtet und nicht wegen seiner Güte, wenn er in Gott mehr den rächenden Richter als den barmherzigen Freund und Vater sieht und wenn er ihn sich mehr als furchtbar in seiner Majestät denn als unendlich in seiner Güte und Gnade vorstellt – dann zeigt er damit, dass er unter der Knute oder zumindest unter dem starken Einfluss eines Geistes der Gesetzlichkeit steht. (John Colquhoun)53
Die Botschaft der Bibel
Um einen Bibeltext verstehen zu können, müssen wir ihn in seinen Kontext stellen, und dazu gehört sein kanonischer Kontext: die Botschaft der Bibel als ganzer. Was ist diese Botschaft? Aus der Perspektive des Alten Testaments lautet sie: „Bei dem Herrn ist Rettung“ (Jona 2,10; ELB) – und nur bei dem Herrn. Wir sind zu tief in die Sünde verstrickt, um uns selber retten oder unseren Bund mit Gott halten zu können. Es braucht ein Eingreifen der radikalen Gnade, und dies kann nur von Gott selber kommen. Im Neuen Testament sehen wir, wie bei dem Herrn Rettung ist: allein durch Jesus.
„Nun ist in Erfüllung gegangen, wovon ich sprach, als ich noch bei euch war; ich sagte: ‚Alles, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich geschrieben ist, muss sich erfüllen.‘“ Und er öffnete ihnen das Verständnis für die Schrift, sodass sie sie verstehen konnten … (Lukas 24,44-45).
Jesus sagt seinen Jüngern: Solange ihr nicht versteht, wer ich bin und wozu ich in die Welt gekommen bin, könnt ihr weder Gottes Erlösung noch die Bibel verstehen.54
Zu zeigen, wie ein Text in seinen kanonischen Gesamtkontext passt, heißt also, dass ich zeige, wie er auf Christus und das Evangelium von der Erlösung hinweist und damit auf den roten Faden und das Zentrum der Bibel. Wenn wir einen Bibeltext auslegen, sind wir erst dann fertig, wenn wir gezeigt haben, wie dieser Text uns lehrt, dass nur Jesus uns erlösen kann und nicht wir selber. Mit anderen Worten: Wir müssen bei jedem Text Christus predigen, d. h. wir müssen jedes Mal das Evangelium predigen und dürfen nicht nur allgemein „erbaulich“ oder moralisierend sein – eine Aufgabe, die viel schwieriger ist, als Sie vielleicht denken.
Die beiden Feinde des Evangeliums
Eine klassische Beschreibung des Evangeliums und was es mit unserem Leben zu tun hat, lautet so: Wir werden allein durch Christus erlöst und allein durch den Glauben, aber nicht durch einen Glauben, der allein bleibt. Echte Erlösung führt immer zu guten Werken und einem veränderten Leben.
Diese Formulierung des Evangeliums stellt die Rolle der Ethik in unserem Leben – unserer „guten Werke“ und moralischen Gesinnung – in den Mittelpunkt. Dabei stellt sie als Erstes klar, dass diese Dinge bei der Frage, ob und wie Gott uns als seine Kinder annimmt, keine Rolle spielen. Römer 4,5 stellt klar, dass Gott „uns trotz all unserer Gottlosigkeit für gerecht erklärt“. Gott nimmt uns nicht wegen unserer moralischen Qualitäten an, ja noch nicht einmal wegen der Qualität unseres Glaubens. Diese Dinge spielen bei ihm keine Rolle, sondern unser vertrauender Glaube vereinigt uns so mit Christus, dass dessen Gerechtigkeit in Gottes Augen zu unserer wird. Er sieht uns als Menschen, die „in Christus“ sind (vgl. Philipper 3,9; ELB). Und dieser rettende Glaube lässt den Heiligen Geist in einem zweiten Schritt eine Verwandlung unseres Herzens beginnen, sodass wir – aus Dankbarkeit und Liebe – Gott gehorchen wollen und konkret anfangen, dies zu tun (vgl. Jakobus 2,14-19).
Seit der Reformation wissen die Theologen darum, dass wir auf zwei auf den ersten Blick einander entgegengesetzte Arten dieses biblische Evangelium und seine Kraft verpassen können. Es sind dies die „Gesetzlichkeit“ – also die Vorstellung, dass wir uns Gott durch unsere guten Taten gewogen machen können – und der „Antinomismus“ (das Wort kommt von dem griechischen Wort für „Gesetz“) – die Vorstellung, dass wir eine Gottesbeziehung haben können, ohne Gottes Wort und seine Gebote zu befolgen. Beide Vorstellungen gehen an einem zentralen Aspekt des Evangeliums vorbei.
Gesetzlichkeit ist viel mehr als die Devise, dass ich durch meine guten Werke erlöst werden kann. Sie ist ein ganzes Netzwerk von Herzenseinstellungen. Sie ist der Glaube, dass Gottes Liebe zu uns von Bedingungen abhängt, die mit dem zusammenhängen, was wir sind bzw. tun. Sie ist die Einstellung, dass ich Gott bestimmte Dinge als Leistungen anbiete, die das, was Christus für mich getan hat, ergänzen und mir Gottes Wohlwollen sichern – z. B., dass ich die Moral hochhalte, mich bemühe, nicht bewusst Böses zu tun, treu zur Bibel und zu meiner Kirche stehe. Eine gesetzliche Einstellung macht uns kleinlich, hart, übertrieben kritikempfindlich, zutiefst unsicher und neidisch auf andere Menschen, weil unsere „persönliche Identität an unsere Leistung und deren Anerkennung geknüpft ist und nicht auf Christus und seiner unverdienten Gnade gründet“55.
Entsprechend ist Antinomismus mehr als die Annahme, dass ich Gottes Geboten nicht zu gehorchen brauche. Es ist das Denken, dass es Gott, wenn er mich doch bedingungslos liebt, egal ist, wie moralisch oder unmoralisch ich lebe. Es ist die Einstellung: „Gott nimmt mich so an, wie ich bin; er will nur, dass ich ich selber bin.“ Nicht selten wird daraus schließlich der Glaube, dass ich nur dann ein freier Mensch sein kann, wenn ich mit dem Glauben an Gott überhaupt Schluss mache.
Die bekannteste biblische Darstellung dieser beiden falschen Denkweisen finden wir im Römerbrief. In Römer 1,18-32 zeigt Paulus auf, dass die Heiden Gott verloren haben, weil sie sein Gesetz missachten – und danach, in Römer 2,1–3,20, führt er aus, dass die Juden, die Gottes Gebote und sein Wort bejahen und halten, ebenfalls von Gott entfremdet sind. Warum sind sie entfremdet? Weil sie sich in ihrer Gottesbeziehung auf dieses Halten des Gesetzes verlassen und nicht auf Gottes Gnade; sie suchen eine „Gerechtigkeit, die sich auf das Gesetz gründet und die ich mir durch eigene Leistungen erwerbe“ (Philipper 3,9; vgl. 3,3-6). Äußerlich sind sie gerecht, aber innerlich sind sie selbstgerecht und suchen ihre Erlösung letztlich nicht bei Gott. Beide – die Heiden und die Juden, die Antinomisten und die Selbstgerechten – lehnen Gottes Gnade und Erlösung ab, nur jeweils auf eine andere Weise, was Paulus zu dem harten Fazit bringt: „Keiner ist gerecht, auch nicht einer … keiner fragt nach Gott“ (Römer 3,10-11).
Äußerlich gibt es gewaltige Unterschiede zwischen den „Gottlosen“, die die traditionellen Normen und Moral verspotten und links liegen lassen, und den hochmoralischen, bibeltreuen „Frommen“, die mit ethischem Wohlverhalten Punkte bei Gott sammeln wollen, aber Paulus sagt, dass sie beide auf eine Art Selbsterlösung setzen und dass die inneren Unterschiede zwischen ihnen eher gering sind.
Wer die Bibel kommunizieren will, muss immer diese beiden Grundeinstellungen berücksichtigen. Viele Bibeltexte enthalten Ermahnungen, wie Gläubige richtig leben sollen, die, wenn man sie isoliert vom Rest der Bibel betrachtet, gesetzlich missverstanden werden können. Andere Stellen in der Bibel betonen Gottes Gnade, Erlösung und bedingungslose Liebe – was, isoliert betrachtet, zu dem Fehlschluss verleiten kann, dass Gottes Gnade nicht zu einem veränderten Leben führt. In The Art of Prophesying schreibt William Perkins, dass „der Prediger um die rechte Beziehung zwischen