Du wartest jede Stunde mit mir. Dietrich Bonhoeffer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dietrich Bonhoeffer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765575266
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dass wir noch immer im Ungewissen sind. Für mich ist dieser Zustand ja gewissermaßen die Hauptaufgabe, mit der ich fertigzuwerden habe, Dich aber hemmt und unterbricht der Gedanke der Ungewissheit immer wieder in Deiner Arbeit und Deinen Plänen. Ja, wenn ich Dir selbst irgendeinen Rat geben könnte für das, was Du tun sollst. Ist denn die Arbeit bei Euch zu Hause wirklich für Dich so wenig ausfüllend? Ganz kann ich es eigentlich nicht verstehen. Es ist eben doch so, dass wir erst einen gemeinsamen Plan machen können, wenn die Dinge hier klar sind. Endlos kann es ja nicht mehr dauern. Andrerseits will ich natürlich nicht, dass Du Dich um meinetwillen noch länger mit einer unbefriedigenden Tätigkeit herumquälst. Im Grunde hängt eben alles davon ab, wann wir heiraten können, und gerade das lässt sich einfach heute noch nicht sagen. Wenn Dir die weitere Wartezeit jetzt wirklich als verlorene Zeit erscheint, dann musst Du natürlich irgendetwas anderes ergreifen. Aber wirst Du nicht doch später einmal jeden Tag bereuen, den Du nicht noch zu Hause gewesen bist, und an Aufgaben kann es doch bei Eurem Betrieb gar nicht fehlen? Du musst mir Deine Überlegungen und Gründe möglichst doch noch genauer schreiben. Weißt Du, es ist wirklich grässlich, dass man nicht einfach zusammensein und alles beraten kann. Bei so einer Sprecherlaubnis kommt ja doch auch nicht alles heraus. Und das letzte Mal hat Dich die Umgebung noch so gestört! Ich spüre das schon gar nicht mehr, so abgestumpft ist man dagegen. Du musst das verzeihen! –

      Hast Du eigentlich alle meine Briefe gekriegt? Bis auf einmal jeden achten Tag! – Die kleine Ina hat mir so einen reizenden Brief geschrieben. Sag ihr doch bitte, wie sehr ich mich darüber gefreut habe. Übrigens, vor Deiner großen Familie brauchst Du Dich für mich, glaube ich, nicht zu fürchten. Die mütterliche Seite kenne ich ja gut genug; außerdem, weißt Du, habe ich ja schon eine ganze Menge sehr verschiedenartiger Menschen – auch „schrecklich festgelegte“, wie Du Dich ausdrückst – kennengelernt, und gegebenenfalls kann ich – was Du wohl noch nicht erlebt hast – auch „schrecklich festgelegt“ sein! Im Übrigen ist die Zeit, in der wir leben, eigentlich für „Festgelegtheiten“ nicht sehr geeignet, sondern jeder muss versuchen, den anderen Menschen zu nehmen und zu verbrauchen, wie er ist; dabei kommt immer am meisten für alle Teile heraus. –

      Nun leb wohl, meine liebste Maria, am besten wäre es doch, Du hättest noch etwas Geduld, finde ich! Es kann ja auch alles ganz schnell gehen, dass wir uns wiedersehen!! Das sage ich nicht nur so hin, sondern weil ich es im Grunde glaube und erwarte. – Gott behüte Dich und uns alle, bis wir uns wiedersehen.

       Immer Dein Dietrich

      Liebste Maria, wir wollen doch bei allem täglichen Hoffen und Bitten um ein baldiges Wiedersehen und Zusammensein keinen Tag vergessen, Gott für das unendlich Viele zu danken, das er gegeben hat und noch täglich gibt. Dann werden alle unsere Gedanken und Pläne klarer und ruhiger werden und wir werden unser persönliches Schicksal leicht und willig auf uns nehmen. Das Evangelium dieser Woche – von der Dankbarkeit – ist mir eines der allerliebsten und wichtigsten.

       26. An Karl und Paula Bonhoeffer

      4. Oktober 1943

       Liebe Eltern!

      Habt vielen Dank für Euren Brief vom 20. 9., der hier gleichzeitig mit einem von Maria vom 2. 9. und einem von Christoph vom 28. 9. vor 3 Tagen eintraf! Könnt Ihr bitte Maria wohl gleich wissen lassen, dass ich ihren Brief erst jetzt bekam; sie begreift sonst gar nicht, dass ich ihr nicht darauf antwortete; ein späterer vom 13. 9. kam vorher.

      Draußen sind zauberhafte Herbsttage und ich wünschte Euch – und mich mit Euch – in Friedrichsbrunn; auch Hans und seiner Familie, die alle so besonders an dem Häuschen hängen, wünschte ich es so sehr. Aber wie viele Menschen mag es heute in der Welt geben, die sich noch ihre Wünsche erfüllen können? Ich bin zwar nicht der Meinung des Diogenes, dass Wunschlosigkeit das höchste Glück und ein leeres Fass eine ideale Behausung ist; warum soll man sich da ein X für ein U machen lassen? Aber dass es, besonders wenn man noch jünger ist, ganz gut sein kann, eine Zeit lang auf Wünsche verzichten zu müssen, das glaube ich doch; nur darf es, finde ich, nicht dazu kommen, dass die Wünsche in einem überhaupt absterben und man indifferent wird. Aber diese Gefahr besteht auch bei mir zur Zeit noch in keiner Weise.

      Maria schrieb in ihrem letzten Brief über Berufsüberlegungen; erst nachdem ich ihr geantwortet hatte, fiel mir ein, ob nicht die Rackowsche Sprachschule für sie das Richtige wäre; ich fände es jedenfalls sehr vernünftig, wenn sie schon wirklich von Pätzig fort will. Würdet Ihr es ihr bitte gleich schreiben, bevor sie möglicherweise andere Entschlüsse fasst. Sie soll sich doch mal einen Prospekt schicken lassen. Man kann dort alle Arten von Dolmetscher-Prüfungen machen und die Kurse dauern nicht sehr lange, sind aber vermutlich ziemlich anstrengend. Aber das scheut sie ja nicht.

      Eben kommt wieder ein Brief von Christoph. Ich finde es erstaunlich, wie er immer wieder daran denkt. Was für ein Weltbild mag sich in dem Kopf eines 14-Jährigen gestalten, wenn er monatelang seinem Vater und seinem Patenonkel Briefe ins Gefängnis schreiben muss. Allzu viel Illusionen über die Welt werden in einem solchen Kopf nicht mehr Platz haben. Für ihn ist die Kinderzeit wahrscheinlich doch mit diesen Ereignissen zu Ende gegangen. Ich lasse ihm sehr danken und freue mich schon sehr darauf, ihn wiederzusehen.

      Dass Ihr die „Systematische Philosophie“ von Hartmann noch gekriegt habt, ist sehr schön. Ich sitze nun sehr dahinter und werde einige Wochen damit zu tun haben, wenn nicht inzwischen doch die ersehnte Unterbrechung kommt.

      Maria hat in einem ihrer letzten Briefe so sehr nett über die Stunden bei Euch geschrieben. Sie fühlt sich so wohl bei Euch, und darüber bin ich natürlich unendlich froh und danke Euch sehr dafür, dass Ihr es Maria immer so hübsch macht. Ich fände den Gedanken, dass sie Dir, liebe Mama, den Haushalt abnähme, ja sehr verlockend, auch im Gedanken an meine Rückkehr, auch glaube ich ja, dass die schlimmste Zeit für Luftangriffe vorbei ist, aber die Verantwortung möchte ich natürlich auch nicht übernehmen.

      Ich freue mich auf die nächste Sprecherlaubnis, die Ihr beantragt habt. Kann nicht auch mal eins der Geschwister mit Euch kommen? Wie geht es nun Renate und Mann? Ich denke natürlich viel hin. Grüßt sie und alle andern bitte herzlich.

       Euch grüßt sehr Euer dankbarer Dietrich

      Würdet Ihr bitte versuchen, für mich zu besorgen: Ortega y Gasset: „System der Geschichte“ und „Vom römischen Imperium“, 2 Aufsätze, erschienen 1943 bei Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart.

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