Wir kennen vergleichbare Phänomene heute aus dem sogenannten „Biofeedback“, und auch unter Hypnose können messbare Temperaturunterschiede auftreten. Jenes Phänomen, das Benson später in sein Konzept der „Entspannungsantwort“ (engl.: relaxation response) (Benson u. Klipper 2000) übernahm – dem physiologischen Gegenspieler der biologischen Stressantwort –, lässt sich schon mit einfachen Temperaturfühlern für jeden Teilnehmer eines Entspannungskurses schnell nachvollziehen. Diese Erkenntnis – d.h. die Beinflussbarkeit und Veränderbarkeit der peripheren Blutverteilung (und damit der peripheren Körpertemperatur) im Rahmen von Entspannungsritualen oder, in der gegenteiligen Richtung, im Kontext einer induzierten Alarmreaktion – war nicht neu, basierte sie doch u.a. auf den Forschungen des Harvard-Physiologen Walter B. Cannon, der Jahrzehnte zuvor in demselben Labor wie Benson über Stress und Regulation geforscht hatte. Neu war, dass Menschen fähig sein sollten, durch geistige („mentale“) Techniken auf die „unwillkürliche“ autonome Regulation gezielt Einfluss zu nehmen. Benson wurde schnell klar, dass seine wissenschaftlichen Ergebnisse zu kritischen Nachfragen führen würden. Und so machte er sich auf, um unter dem Begriff der „Mind-Body-Medizin“ die Untersuchung solcher Geist-Körper-Phänomene – und eine mögliche Bedeutung für die Medizin – zur Chefsache zu machen. An der Harvard Medical School gründete er das Mind/Body Medical Institute (heute: Benson-Henry Institute for Mind Body Medicine), dem er noch bis vor kurzem als Professor und Direktor selbst vorstand.
Doch von den ersten Untersuchungen im Himalaya bis zu den vertiefenden Studien „nach westlichem Standard“ – inklusive experimenteller humanbiologischer Studien unter Laborbedingungen – sollte es noch ein langer Weg sein. So dauerte es u.a. bis zum Jahr 2001, bis man die Bedingungen geschaffen hatte, um in einem „Kloster auf Zeit“ viele wissenschaftliche Untersuchungen durchzuführen oder zu wiederholen, die bis dato eher anekdotenhaft geblieben waren. Diese initialen Untersuchungen waren die Voraussetzung für eine vernünftige Begründung nachgelagerter wissenschaftlicher Forschungsfragen und Studien, die weltweit nun Beachtung fanden. Plötzlich begann man sich allerorten für solche Mind-Body-Phänomene (auch für die Meditationsforschung generell) zu interessieren, nicht nur in Medizin und Physiologie. Zentrale Fragestellungen waren: Wie ist die Evidenz der Mind-Body-Medizin? Was sind Wirkungen, was die Wirkmechanismen und -wege, die dahinterstehen? Welche Bedeutung haben sie für den gesunden und kranken Menschen? Wie kann die Mind-Body-Medizin gesundheitsförderlich, präventiv oder therapeutisch genutzt werden? Wann, für wen? Jetzt spätestens begann eine neue Ära der Selbstregulationsforschung und der Mind-Body-Medizin.
2.4 Rituale und eine Kultur der Heilung
Der renommierte amerikanische Evolutionspsychologe Matt Rossano sorgte 2007 mit dem Artikel „Did Meditating Make Us Human?“ (Hat das Meditieren uns zum Menschen gemacht?) für Aufsehen, der im angesehenen Cambridge Archaeological Journal erschien (Rossano 2007). Die zentrale These von Rossano lautete: Lagerfeuer-Rituale, wie sie sich in der Form – ggf. mit Gesang, Tanz etc. – wohl erst beim modernen Menschen ereigneten und einer Art „Gruppen-Meditation“ gleichkamen, haben die Fähigkeit einer fokussierten Aufmerksamkeit trainiert, was wiederum zu einer Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses insgesamt geführt haben mag; dieses nicht nur beim Einzelnen, sondern auch im evolutiven, phylogenetischen Prozess. Rossano spekulierte, dass Meditation und das, was er „schamanistische Heilungsrituale“ nannte, unsere biologische und genetische „Fitness“ verbesserten. Jenen frühen Kult bezeichnet er, im Einklang mit anderen Wissenschaftlern, als die älteste Form einer Religion, wie sie darüber hinaus in praktisch allen traditionellen menschlichen Gesellschaften zu finden sei. So beschreibt auch Michael Balter in Science (Balter 2000), bezugnehmend auf Funde in der Grotta di Fumane in Norditalien, ca. 35.000 Jahre alte Steinplatten mit Darstellungen von menschlichen Umrissen, die deutlich Geweih als Kopfschmuck erkennen lassen – andernorts als typisch für Schamanen oder „Medizinmänner“ bekannt. Schon in den 1980er-Jahren hatten Richard Katz und andere Harvard-Anthropologen festgestellt (Katz 1982), dass schamanistische Heilungsrituale möglicherweise eine wichtige adaptive Funktion bei unseren Vorfahren hatten und einen Evolutionsvorteil darstellten. Teil jener Rituale waren wohl, folgt man u.a. Rossano, auch meditative Techniken.
Wir können davon ausgehen, dass derartige Rituale von frühesten schamanistischen Tänzen und Heilungszeremonien, von Gruppengesängen oder dem stillen Sitzen am Lagerfeuer, über Beschreibungen religiöser Praktiken in Mesopotamien oder Ägypten, bis hin zu jahrtausendealten präbuddhistischen Yoga-Formen in Tibet, nicht rein „zufällig“ in unseren menschlichen Handlungskanon aufgenommen bzw. konserviert wurden und heute in diversen Kulturen wiederentdeckt werden. Auch die Faszination, die derartige Rituale auf viele Menschen ausüben, mag kein Zufall sein. Der Soziologe und Anthropologe James McClenon geht sogar so weit zu behaupten (McClenon 2001), dass eine gewisse „Anfälligkeit“ für die vermeintlich vorteilhaften physiologischen und psychologischen Effekte von Meditations- und Heilungsritualen einen Selektionsvorteil in der menschlichen Evolution dargestellt haben könnte. Zumindest aber scheinen wir für die gesundheitsförderlichen, präventiven oder therapeutischen Wirkungen religiöser bzw. kulturell tief verwurzelter Medizin-Praktiken „voreingestellt“ zu sein, d. h. eine Art biologische oder genetische Veranlagung zu haben. Dabei ist das Anziehende dieses Ansatzes, meinen auch McClenon und Rossano, möglicherweise weniger im Glauben zu suchen (oder in einer spezifischen Religion), sondern im praktizierten Ritual selbst, welches als transreligiös interpretiert werden kann.
2.5 Rituale und Selbstheilung in der Medizin
Die moderne Medizin beginnt mit Hippokrates von Kos (460–371 v.u.Z.) und den Asklepiaden. Schon damals findet sich eine Betonung von Lebensstil bzw. „Lebenskunst“ als wichtige Voraussetzung für Gesundheit und Heilung. So war Hippokrates’ „Diaita“ weit mehr als eine Ernährungslehre. Es war auch eine Anleitung zur Selbstfürsorge. Ebenfalls wird schon mit der Dreiteilung gearbeitet, die von nun an lange bestimmend in der europäischen Medizin sein sollte: Neben der Chirurgie bzw. dem ärztlichen Eingriff und der Pharmakologie waren Lebensführung und Eigenverantwortung essenzielle Bestandteile nicht nur der Behandlung, sondern eben auch der Gesundheitsversorgung (vgl. Therapeia), Gesundheitsforschung (vgl. Hygieina) und Gesundheitsvorsorge (vgl. Prophylaxis). Interessanterweise spielte, neben der Tugendhaftigkeit, der Kunst und der Wissenschaft, auch die Religion eine wichtige Rolle beim Erhalt der Gesundheit. Lebensziel war u.a. der Erhalt von Ordnung, Ausgleich und Gesundheit. Dieses war eine Frage des systematischen Vorgehens (Wissenschaft), der gemäßigten, geordneten und ausdrucksvollen Lebensweise (Tugend, Kunst) sowie eines frommen oder religiösen Lebens, d.h. des Glaubens – hier v.a. als kulturelles Konstrukt. Selbstverantwortung war ein zentrales Element. In der Philosophie dieser Zeit spiegelten sich jene Auffassungen wider (u.a. bei Aristoteles) (vgl. Esch 2014).
In den folgenden Jahrhunderten tauchte immer wieder die Betonung der Selbstfürsorge im medizinisch-therapeutischen Kontext auf, aber auch im religiösen, denn nach wie vor waren beide Bereiche eng miteinander verbunden. Häufig äußerte sich diese „Synthese“ oder Einbindung im Sinne einer „inneren Kraft zur Heilung“, d.h. unter der Annahme einer Selbstheilungstendenz und -fähigkeit des Menschen. Wir finden eine derartige Komplementarität zwischen der „äußeren Medizin“ (oder Religion) einerseits und der Selbstfürsorge/-heilung (dem „inneren Arzt“) andererseits u.a. bei Galen im 3. Jahrhundert (vgl. van der Eijk 2011). Dieser orientierte sich an Hippokrates und Aristoteles und zeichnete eine Medizin vor, die davon ausging, dass Gesundheit – und nicht Krankheit – der Normalzustand sei (der Mensch also von Natur aus „gesund“) und dass funktionale Zusammenhänge und innere Regulationsprozesse zu beachten seien, welche prinzipiell die Tendenz zur Heilung hätten, d.h. zum „inneren Gleichgewicht“ führten. Der Arzt war in diesem Kontext mehr Unterstützer und Ermöglicher als eigentliches „Pharmakon“ oder „Agens“ – Medizin bedeutete, dass der Therapeut bzw. Behandler mit der Natur zusammenzuarbeiten hatte. Der Einzelne hatte in hohem Maße Einfluss auf die Gesundheit. Ähnliches finden wir später bei Paracelsus (vgl. Esch 2014) im 16. Jahrhundert, der u.a. das Zusammenspiel zwischen dem „Medicus“ – zuständig für medizinische Prozeduren und die Therapie (inkl. der Agenzien) – und „Archaeus“ beschrieb. Die Idee eines Archaeus entsprach