Wie später in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung unterscheidet Schopenhauer zwischen zwei Wegen, auf welchen sich der Mensch von der empirischen Wirklichkeit lösen und in den Bereich des »besseren Bewußtseins« eindringen kann, einem ästhetischen und einem ethischen: »Im Moralischen spricht sich das bessre Bewußtseyn aus, das hoch über alle Vernunft liegt, sich im Handeln als Heiligkeit äußert, und die wahre Welterlösung ist: dasselbe äußert sich, zum Trost für die Zeitlichkeit, in der Kunst als Genie.« (HN I 44) Entscheidend für beide Weisen der Weltüberwindung ist, daß der Mensch nicht einfach nur einen kognitiven Schritt vollzieht, sondern daß er mit der empirischen Wirklichkeit das, was sie eigentlich ausmache, nämlich das »Leben« (HN I 85, 87 u. 104 f.) bzw. das »Lebenwollen« (HN I 91 u. 105) verneint. Dies aber läuft letzten Endes auf Askese hinaus: »Asketik […] ist Negation des zeitlichen Bewußtseins: und Hedonik seine Affirmation.« (HN I 69; vgl. a. HN I 39 u. 52) Mit anderen Worten, Schopenhauer charakterisiert bereits in seiner frühen Philosophie die Erlösung als »Befreiung vom Wollen […] durch die bessre Erkenntniß« (HN I 120).
Dem »wahre[n], vollkommne[n], reine[n] Kriticismus« (HN II 356; vgl. a. HN II 360), den Schopenhauer in Anschluß an Kant – und in Abgrenzung gegen Fichte und Schelling – errichten will, weist er die Aufgabe zu, die beiden Arten des Bewußtseins bzw. die ihnen korrespondierenden Bereiche der Wirklichkeit »immer vollständiger […] zu trennen« (ebd.). Während sich das empirische Bewußtsein auf die raum-zeitliche, dem Korrelationsapriori von Subjekt und Objekt unterworfene Wirklichkeit bezieht, läßt sich das bessere Bewußtsein nicht positiv, sondern lediglich negativ beschreiben: »Will es bessres Bewußtseyn seyn so können wir positiv von ihm nichts weiter sagen, denn unser Sagen liegt im Gebiet der Vernunft; wir können also nur sagen was auf diesem vorgeht, wodurch wir von dem bessern Bewußtseyn nur negativ sprechen.« (HN I 23) Während das empirische Bewußtsein durch Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft sowie die Relation von Subjekt und Objekt bestimmt sei, treffe dies auf das bessere Bewußtsein nicht zu. Insbesondere macht Schopenhauer geltend, daß letzteres nicht der Zeit, sondern der Ewigkeit angehört (vgl. HN I 67 u. 85), daß es nicht der Kausalität unterworfen ist (vgl. HN I 67 sowie HN II 326 u. 329) und daß es darin keinen Gegensatz von Subjekt und Objekt gibt (vgl. HN I 67, 137, 151 u. 167). Damit aber kommt dem besseren Bewußtsein keine kognitive Funktion im herkömmlichen Sinne zu: »[D]as bessre Bewußtsein denkt und erkennt nicht, da es jenseit des Subjekts und Objekts liegt« (HN I 67). Es liegt auf der Hand, daß sich Schopenhauer auf diese Weise der Mystik nähert, mit der er gut vertraut ist und die er durchaus schätzt.7 Vergegenwärtigt man sich, daß das bessere Bewußtsein außerhalb des Bereichs der menschlichen Erkenntnis liegt, so ist es, wie Schopenhauer hervorhebt, nicht statthaft, das empirische Bewußtsein von ihm herzuleiten: »Die Frage ist transcendent und diese Relation ist ein transcendentaler Schein.« (HN I 67)
Unter der Voraussetzung, daß sich das bessere Bewußtsein »jenseits aller Erfahrung also aller Vernunft« (HN I 23) befindet, ist keine der Aussagen, die Schopenhauer darüber macht, wörtlich zu nehmen. Das gilt für Thesen wie jene, daß das empirische Bewußtsein im Vergleich zum besseren einer Täuschung (vgl. HN I 104) verhaftet ist oder daß die Überwindung derselben auf die Erlösung des Menschen hinausläuft. Von daher wird auch verständlich, daß Schopenhauer die Versuche eines Fichte oder Schelling, die metaphysische Wirklichkeit gegenständlich zu erfassen, immer wieder scharf kritisiert.8 Das hindert Schopenhauer freilich nicht daran, vom Philosophen und vom Heiligen zu fordern, das bessere Bewußtsein angemessen zu bestimmen: »Der vollkommne Philosoph stellt theoretisch das bessre Bewußtseyn rein dar, indem er es genau und gänzlich vom empirischen sondert. Der Heilige thut dasselbe praktisch. Beiden ist es karakteristisches Merkmal ihrer Vollkommenheit, daß sie keinen Theil des empirischen Bewußtseyns schonen, unter welcher Gestalt er auch erscheinen mag.« (HN I 149)
Es kann festgestellt werden, daß Schopenhauer in seiner »Philosophie des bessern Bewußtseins« mit seinem soteriologischen Grundanliegen, der Zweiweltenlehre, die ihm zugrunde liegt, sowie mit der Annahme, die Erlösung könne auf ethischem oder asketischem Weg erreicht werden, wesentliche Gedanken seines späteren Ansatzes vorwegnimmt. Was hingegen den Begriff des Willens anbelangt, so tritt dieser zwar gelegentlich auf, nimmt aber noch keine zentrale Stellung ein. Immerhin sieht Schopenhauer den Willen nicht nur im Menschen, sondern auch in der Natur wirken (vgl. HN I 91), und er macht geltend, daß der Übergang vom empirischen Bewußtsein zum besseren durch den Willen – und nicht die Vernunft – ermöglicht wird. In diesem Sinne stellt er fest: »[U]m das ungeheuer Schwere, Unmögliche zu vollenden, braucht man nur zu wollen, aber wollen muß man.« (HN I 54) Von der metaphysischen Deutung des Willens als Ding an sich sind diese Überlegungen allerdings noch ein gutes Stück entfernt.
Erkenntnistheorie
Angesichts der Tatsache, daß Schopenhauer das Anliegen verfolgt, den »ächten« oder »wahren Kriticismus« (HN I 20, 24, 37, 126 u. 151) zu errichten, überrascht es nicht, daß er die Erkenntnistheorie an den Anfang der Darstellung seines Ansatzes stellt. Das liegt daran, daß er es für erforderlich hält, die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis zu klären, bevor er sich der Metaphysik – sei es der Natur, des Schönen oder der Sitten – zuwendet. Er erläutert seine einschlägigen Überlegungen zunächst in seiner Dissertation Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde und später nochmals im jeweils ersten Teil der beiden Bände von Die Welt als Wille und Vorstellung sowie seiner Philosophischen Vorlesungen. Vor diesem Hintergrund könnte man die Dissertation durchaus als »›Propädeutik‹ zum Hauptwerk« betrachten.9
Schopenhauers erkenntnistheoretischer Ansatz bietet sich insofern als recht komplex dar, als er transzendentale und anthropologische – d. h. physiologische und psychologische – Ausführungen enthält, die nicht immer klar voneinander geschieden werden, sondern gelegentlich ineinander übergehen. Schopenhauer spricht in diesem Zusammenhang auch von einer subjektiven und einer objektiven »Betrachtungsweise des Intellekts« (W II 318). So betont er, daß man »nicht bloß […] vom Intellekt zur Erkenntniß der Welt gehn [muß], sondern auch […] von der als vorhanden genommenen Welt zum Intellekt. Dann wird diese, im weitern Sinn, physiologische Betrachtung die Ergänzung jener ideologischen, wie die Franzosen sagen, richtiger transscendentalen.« (W II 339)
Aufgabe der transzendentalen Untersuchung der Erkenntnis ist es, die apriorischen Bedingungen der Möglichkeit derselben zu beschreiben. Die beiden grundlegendsten dieser Bedingungen sind die apriorische Korrelation von Subjekt und Objekt sowie der Satz vom zureichenden Grunde, die ihrerseits eng miteinander zusammenhängen und für die gesamte Welt als Vorstellung gelten. Was den letzteren anbelangt, so wurde dieser, wie Schopenhauer ausführt, von Leibniz als »Hauptgrundsatz aller Erkenntniß und Wissenschaft förmlich aufgestellt« (G 31) und von Wolff in einem wesentlichen Punkt, nämlich der Unterscheidung zwischen Seins- und Erkenntnisgrund, ausdifferenziert. Schopenhauer schließt sich der auf Wolff zurückgehenden Formulierung des Satzes an: »Nihil est sine ratione cur potius sit, quam non sit.« (G 17)
Der Satz vom Grunde zeichnet sich – laut Schopenhauer – dadurch vor anderen Prinzipien aus, daß er sich nicht beweisen oder erklären läßt. Dabei versteht er unter einem Beweis oder einer Erklärung ein deduktives Verfahren, mit dessen Hilfe ein Satz oder ein Sachverhalt von einem anderen Satz oder Sachverhalt hergeleitet wird. Nun aber beinhaltet der Satz vom Grunde, daß sich alle Sätze oder Sachverhalte auf andere zurückführen lassen, so daß er das oberste Prinzip allen Beweisens oder Erklärens darstellt, das auf einer anderen, höheren Ebene angesiedelt ist und – als oberstes Prinzip – nicht von Prinzipien, die ihm nochmals übergeordnet wären, abgeleitet werden kann: »Denn jeder Beweis ist die Zurückführung des Zweifelhaften auf ein Anerkanntes, und wenn wir von diesem, was es auch sei, immer wieder einen Beweis fordern, so werden wir zuletzt auf gewisse Sätze gerathen, welche