Ob ich in der Noch-DDR dafür einen Verlag gefunden hätte? Ich hatte es nicht probiert. Andere Sorgen und Notwendigkeiten drängten auf den Herbst 89 hin.
Einen später entstandenen Plan verwirklichte ich dann ebenfalls nicht mehr. Ich hatte 2001/2002 mit folgendem Gedanken gespielt: Zwanzig Jahre nach deinen Warmbader Kurtagen, also 2007, fährst du wieder dorthin. Parallel genau zu den Daten deines 87er Aufenthaltes. Dann vollziehst du Datum für Datum und Seite für Seite das nach, was du damals dachtest, erlebtest und aufgeschrieben hattest. Zu-gleich schreibst du auf, was du während deiner zweiten Warmbader Kur denkst und erlebst. Dann stellst du beide Darstellungen nebeneinander und vergleichst die Ergebnisse deines zwiefachen Nachdenkens zu den unterschiedlichen Zeitpunkten deines Lebens. Dadurch zu einem Resümee kommend, was dir dieser Lebensnerv-Einschnitt 1989 gebracht hatte oder eben nicht. Keine schlechte Idee!
Habe ich leider, leider auch nicht geschafft, mich an solch ein Vorhaben heranzuwagen. Anderes stand auf der Tagesordnung. Schade, denke ich 33 Jahre nach meinen Kurtagen mit den Wismut Kumpel. Einen Verlag hätte ich für dieses Buchprojekt ganz sicher gefunden. Das vorliegende Buch über meine LebensLiebe und andere haben ja auch einen wirklich guten verlegerischen Betreuer erhalten!
Zu Warmbad 1987 schrieb ich nicht nur an meinem Tagebuch. Auch für meine LebensLiebste Anne war ich sehr schreibfleißig. So flogen Liebesbriefe zwischen Berlin und dem kleinen erzgebirgischen Ort an der Zschopau hin und her. Sie fanden die gewünschten Lese-Augen.
Liebesbrief altmodisch? Für mich sind sie nicht alt- und auch nicht neumodisch. Sympathie und gar Liebe wird heute fast ausschließlich mit den flinken spitzen Fingern auf das Smartphone getippt. Nur aus wenigen Worten bestehend und als Höhenpunkt der Gefühlsäußerung diese mit einem oder mehreren Smileys ergänzt. Wenn Liebesbriefe nicht zu jeder Zeit und nicht in jedem Jahrhundert geschrieben worden wären, was wäre da für ein Verlust entstanden! In der Epik, in der Lyrik und in der Dramatik! Am größten wäre aber der Verlust für die gelebte Liebe geworden. Ich formuliere bewusst etwas kategorisch: Liebe muss um der Liebenden willen ausgesprochen und auch aufgeschrieben werden!
Als ich nach ihrem endgültigen Abschied über meine LebensLiebe Anne nachdachte und schrieb, las ich nach langer Zeit wieder unsere Warmbader Briefe. Las über unsere Liebesfreud´ und über unser Liebesleid und über unser Zueinander-Finden. Dies in sehr, sehr schwierigen gesellschaftlichen Zeiten, aus denen wir uns ja nicht abkoppeln konnten und wollten. An vielen Stellen musste ich lächeln, und manchmal stiegen mir die Tränen in die Augen. Fragte ich mich auch, ob ich die Leser an meiner Freude und an meinem Schmerz, den ich einst und auch noch heute empfinde, teilnehmen lassen sollte, indem ich sie mitlesen lasse. Wenigstens auszugsweise. Entschied ich mich dafür. Stellte ich aber nicht die schönsten Stellen aus allen Briefen zusammen. Griff ich in den Stapel unserer Liebesbriefe aus dieser Zeit, zog nach dem Zufallsprinzip zwei Briefe heraus, einen von meiner Liebsten und einen von mir.
Anne Berlin, 16. Juni 1987, abends
Du! Malte, du bist es immer noch!
Habe deine Tagebuchnotizen und deinen Brief vom 11. Juni gelesen. Ich beneide dich um die Gespräche mit deinem Arzt. Da kann man ausholen, so richtig aus der Tiefe, und hat danach das Gefühl, dass einem geholfen wurde. So ginge es jedenfalls mir.
Warum fühle ich mich aber bei den von dir zitierten Sätzen so persönlich angesprochen, fast angegriffen und schuldig? Ich will das nicht! Und doch kommt es so! Es ist wie ein Schuldkomplex! Das macht mich noch ängstlicher und unsicherer! Wie kann ich ein Selbstwertgefühl bekommen, wenn ich finde, dass ich selbst wertlos bin? Meine Pflicht und Schuldigkeit gegenüber meinen Kindern habe ich getan! Das ist es nicht, was mir fehlt … ach, ich weiß es nicht!
Sei nicht böse, ich bin wieder mal blöd!
Du sollst aber wissen, dass mir dein Brief doch
Hoffnung macht, dass du mir und uns Zeit gibst.
Ja, ich verstehe das, was du geschrieben hast, und ich akzeptiere das auch, weil es auch meine Wünsche und Gedanken sind. Nur kann ich sie nicht so gut aufschreiben und so gut aussprechen wie du. Mein Minderwertigkeitskomplex – deine Klugheit. Dabei mag ich klugen Männer sehr. Aber wenn es ernst wird, dann merke ich, dass mir so vieles fehlt und dass ich nicht weiterkann. Das ist es! Mir fehlen dann die Worte, ich krieg sie nicht auf die Zunge, kann sie aber selbst in mir hören. Das ist doch dumm, ich meine Dummheit/doof sein!
Nun fälltt mir doch noch ein, was ich dir erzählen sollte. Etwas Schönes und zugleich Trauriges.
Heute nachmitttag fuhr ich zu deinem Papa ins Krankenhaus. Auf dem Wege zu ihm sind mir die Tränen gerollt. Ich glaube vor Glück! Ich hatte damit begonnen, deinen Brief zu lesen. All meine Gefühle für dich waren plötzlich so groß. Und es drängte mich fast zu deinem Vater.
Ich wollte dann mit ihm spazieren gehen, holte also im Krankenhaus diesen ollen Rollstuhl aus der Abstellkammer. Und stell dir vor: Während ich unterwegs war, hat er seine Blase über das
Handwaschbecken entleert.
Ich war platt über diese Raffinesse und habe ein bisschen geschimpft. Und er? Er hat gegrient!
Die Spazierfahrt im Park war recht anstrengend.
Regen und Wind, und ich bekam auch noch meinen hässlichen Heuschnupfen. Als wir ins Zimmer zurückkamen, hat doch Papas Zimmerkollege geweint. Ich habe ihn umarmt, getröstet und Mut gemacht. Dann war ihm besser. Aber dann fing Papa an zu weinen. Er war eifersüchtig geworden. Also umärmelte und tröstete ich auch ihn. Diese Männer! Nun mache ich Schluss mit diesem Brief!
Mir fehlt deine Zärtlichkeit! Anne
Malte Warmbad, 21. Juni 1987, 21:45
Liebe Anne,
irgendwie liege ich hier ein bisschen krumm im Bett, liege krumm im Bett herum. Im Radio spielen sie gerade passend die „Kleine Nachtmusik“. Bevor ich zum Schlafen komme, will ich dir noch einen Brief schreiben. Ob meiner schrägen Lage wird meine Schrift noch schlechter zu lesen sein als sonst. Aber damit hast du ja als meine langjährige Sekretärin Erfahrung. Manche meiner Notizen konntest du im Nachhinein besser als ich lesen.
Anne, ich habe heute Nachmittag deinen Brief vom 16. Juni bekommen. Heute Vormittag schrieb ich dir noch in meinem Antwortbrief, dass ich mit dir nicht gern „zeitverschoben“ sprechen möchte. Aber jetzt möchte ich trotzdem auf deinen Brief antworten – nur wenige Gedanken.
Pfingsten wäre für dich nicht schön gewesen, schreibt du mir. Ist mir völlig klar! Trotzdem bin ich traurig, mitleidig, auch böse, dass du dich so sehr hängen lässt, wie ich es aus deinen Zeilen herausgelesen habe. Siehst du denn die Schuld für unsere Probleme nur bei dir? Ziehst du dich jetzt wieder auf deine Kinder zurück? „Ich habe jetzt wieder meine Kinder, meine Wohnung“, schreibst du. …
Das stimmt alles, und stimmt auch wieder nicht! Deine Kinder haben doch ihr eigenes Leben, ihr eigenes selbständiges Leben schon begonnen. Lass sie doch jetzt laufen! Kümmere dich um deinen Jüngsten! Das muss noch sein! Aber die anderen sind weg! Ordne sie dort in dein Leben ein, wo sie jetzt hingehören! Du hast ihnen gegeben, was du konntest. Sie gehen so oder so ihren Weg.
Was jetzt für dich kommt, das ist dein Leben! Diese Tatsache musst du in deine Regeln bringen.
Zu diesem neuen Leben gehöre jetzt ich. Will ich dazugehören. So haben wir das ja beide für uns entschieden. Und so wie du bisher deine Kinder, deine Arbeit, deine Art zu leben in dein Leben eingeordnet hast … so fällt es dir schwer, jetzt mich dort einzuordnen. Ich bin nicht eines deiner Kinder, und ich bin nicht eines deiner bisherigen Lebensprobleme! Da ist mit mir etwas völlig Neues für dich hinzugekommen …
Anne, Liebes, was ich nach wie vor nicht verstehe, das ist dein Minderwertigkeitsgefühl. Das begreife ich nicht! Nach wie vor nicht! Soll ich wieder aufzählen, was du in deinem bisherigen Leben geleistet hast, was du erreicht hast? Worauf du alles verzichten