Ich verlor meine LebensLiebe. Verlor ich sie? Dieses Buch ist ein Versuch, auf diese Frage eine Antwort zu finden.
Ich fürchte: Das wird mir allgemeingültig nicht gelingen!
Malte Kerber
Berlin, 09.04.2020
Das verborgene Wort
DAS – VERBORGENE – WORT. In diesen drei Worten schwingt Poesie. Was ist das für ein Wort, das da verborgen bleiben soll und doch leise fordernd ans Licht geholt werden möchte? Worte sind Ausgangspunkte von Geschichten, die erzählt und die aufgeschrieben werden wollen. Sie klopfen darum immer wieder fordernd an die Tür des dichtenden Aufschreibers.
„Das verborgene Wort“ ist der Titel des zweiten Romans der Lyrikerin und Schriftstellerin Ulla Hahn 8. Anne und ich, wir lasen ihn und unterhielten uns über das Schicksal der Hauptfigur Hilla Palm. Meine LebensLiebste hatte Ähnlichkeiten zwischen deren und ihrem Leben entdeckt. Sie ergänzte die genannten Worte mit zwei weiteren, es entstand ein Satz:
Das verborgene Wort heißt Liebe.
Was für ein schöner Gedanke! Er drückte sehr intim etwas Allgemeines über die Liebe und etwas Wesentliches über die Persönlichkeit meiner Frau aus. Liebesworte sind tatsäch-lich häufig verborgene Wort. Diese sollten aber aus-gesprochen werden. Nicht zu früh, vor allem nicht zu spät! Und Liebeworte warten auch darauf, aufgeschrieben zu werden. Das ist noch wichtiger, als sie nur auszusprechen! Was auf dem Papier steht, das hat etwas Gültiges. Es steht dort schwarz auf weiß. Oder auch Farbe auf Farbe, je nach Phantasie. Es steht dort, kann wiederholt gelesen werden. Die Liebe zwischen Anne und mir begann etwa 1983. Drei Jahre später heirateten wir. Von Anfang an schrieben wir uns. Holten auch die verborgenen Worte aus unserem Gedanken und machten sie dem anderen lesbar. Das war oft nicht einfach. Kleine Notizen füreinander, Postkarten und die langen Briefe gehörten zu unserem Alltag und zu unseren Festtagen. Beide mussten wir uns aus schwierigsten persönlichen Verhältnissen heraus- und zueinander finden. Dabei half uns das Aufschreiben für den anderen. Dieses Aufeinander-zu-Schreiben hatte auch einen ganz praktischen Grund. Wir lebten in getrennten Wohnungen und hatten über die Woche meist keine Zeit füreinander. Verstärkt wurden unsere Schwierigkeiten auch durch die komplizierter werdenden gesellschaftlichen Verhältnisse Mitte der 80er Jahre in der DDR. Sie berührten fast alle Bürger und Familien ganz direkt.
Im Zentrum des kleineren deutschen Landes, in Berlin, erlebten wir, Anne und ich, in dieser Zeit die Krise und das Zusammenfallen einer Gesellschaft, die ihren hohen Ansprüchen nicht gerecht wurde und wohl nicht werden konnte. Das hatte auch für uns persönliche, familiäre, berufliche, kulturelle, soziale und manch andere Konsequenzen. Es ging auch bei uns um sehr existentielle Fragen.
Da unterschieden wir uns nicht von den meisten Menschen in der DDR. Unser Staat hatte sich ausgelebt oder verlebt. Wir wurden ebenfalls hineingeworfen in für uns völlig neue Lebensverhältnisse. Einschneidendes musste sich auch in unserem Denken und Fühlen verändern. Wir halfen uns, wo wir nur konnten, hätten manches allein wohl nicht bewältigt. Da spielte eben auch das Aufschreiben der „verborgenen Worte“ des einen für den anderen eine große Rolle. Anne sammelte, unbemerkt vor mir, solche schriftlichen Zeugnisse unseres Gedankenaustauschs. Sie schenkte mir Jahre später einen von ihr schön gestalteten dicken Hefter, darin Postkarten, Briefe und Liebesnotizen aus den Jahren 1984 – 2001. Die Titelseite schmückte sie mit einer kleinen Klebearbeit zum erwähnten Motto.
Diese sechzehn Wende-Jahre waren für Anne und mich und für unser gemeinsames Leben ganz entscheidende Jahre. Nach 1989 bis zum Anfang des neuen Jahrhunderts hatte sich für uns alles, alles verändert. Und auch wir veränderten uns, ohne uns zu verbiegen. Vieles Wertvolle aus unserer Vergangenheit nahmen wir in die vor uns liegenden Jahre mit. Unsere Liebe aber war uns trotz aller Veränderungen zu einer gelebten LebensLiebe gewachsen. Sie trug uns gemeinsam in eine andere für uns neue Zeit, im weiteren und ganz persönlichem Sinne.
Postkartengrüße
In ihrem „Liebes-Sammelsurium“, wie Anne den Hefter nannte, hatte sie auch Postkarten aufbewahrt, die ich ihr aus verschiedenem Anlass geschrieben und geschickt hatte. Darunter einen kompletten zusammenhängenden Satz, welcher aus dem Frühjahr 1985 stammt. Wir hatten in diesem Jahr damit zu kämpfen, für uns beide einen neuen Lebensweg zu finden. Genauer: Überhaupt erst einmal einen neuen Startpunkt zu bestimmen.
Wir wussten zum Beispiel noch nicht, wie und wo wir zusammenleben konnten. Es ging schlicht und einfach und doch so schwerwiegend für uns erst einmal um eine Wohnung, in der wir gemeinsam leben konnten. Dann die große Frage: Wie geht es weiter mit der DDR? Die Entwicklung im Lande bröselte vor sich hin. Ich hatte mich in meiner beruflichen und politischen Tätigkeit mit immer komplizierter werdenden Bedingungen auseinanderzusetzen. Im Frühjahr erhielt ich dann auch noch einen besonderen journalistischen Arbeitsauftrag. Für mich eine sehr reizvolle Aufgabe. Aber er machte alles für uns beide nicht leichter! Ich musste für mehrere Wochen eine Reportagereise antreten.
Der Anlass: Am 8. Mai 1985 jährte sich der 40. Jahrestag der Kapitulation der faschistischen Wehrmacht, der deutsche Faschismus war im Frühjahr 1945 zerschlagen worden, die Kämpfe in Europa zu Ende. In der DDR und den anderen sozialistischen Staaten feierte man den 8. Mai als „Tag der Befreiung“. 1985 – das war ein runder Jahrestag! Aus diesem Anlass fand eine Internationale Autorallye statt. Auf den „Spuren des Sieges“, so ihr Motto, führte sie von Moskau durch alle sozialistischen europäischen Länder. Ich sollte die Tour als Journalist begleiten und darüber berichten.
Anfang April starteten wir in Berlin, um nach Moskau zum scharfen Start zu fahren. Ich saß mit meinem Freund und Journalisten-Kollegen Hartmut Nehring von der „Jungen Welt“9 in einem der vier Autos der DDR-Delegation. Das war für uns ein besonderer und interessanter Auftrag. Er führte uns über Tausende von Kilometern durch ganz Ost-europa. Hochinteressant und erlebnisreich die Fahrt! Aber: Ich war auch vier Wochen von meiner Liebsten getrennt. Während einer für unser gemeinsames Leben komplizierten persönlichen Situation. Vieles war für uns noch ungeklärt.
Die Reportagereise gestaltete sich ausgesprochen anstrengend und zeitintensiv. An das Schreiben von Briefen war gar nicht zu denken. Deshalb schickte ich Anne von jedem Etappenort eine Postkarte. Meine Liebste sammelte diese und bewahrte sie in ihrer Sammelsurium-Mappe auf.
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Warschau, Polen 13.04.85
Den ersten Fahrtag geschafft. Wetter trüb! Alles noch normal!
Bin sehr müde. Morgen geht es bei Brest über die Grenze in die Sowjetunion … Werden uns mit dem Fahren abwechseln.
2 x Zeitverschiebung. Komme mit dem Schlafen durcheinander.
Denke an dich! Gruß und Kuss!
Dein Julius
Minsk, Weißrussland 15.04.85
Anne-Maus, Mitternacht ist vorbei. Wir bereiten uns zum Schlafen vor. Heute eine wilde Fahrt von Warschau über Brest nach Minsk … Brest – traurige Erinnerungen an den 20./21. Juni 1941.