Psychotherapeutisches Prozessmodell von Orlinsky et al. 2004, Orlinsky 2009
In dem ›Generic Model of Psychotherapy‹ (GMP) haben Orlinsky et al. 2004 den Therapieprozess in eine kontextuelle Klammer (Input und Output) eingebettet, die durch die Gesellschaft (z. B. das Gesundheitssystem) sowie die Patienten- und Therapeutenvariablen gebildet wird. Der Therapieprozess wird dabei durch sechs Variablen bestimmt:
1. Therapeutischer Vertrag (formale Aspekte der Therapie, z. B. Häufigkeit der Sitzungen)
2. Therapeutische Interventionen (Interaktionen von Therapeut und Patient bezüglich der Interventionen)
3. Therapeutische Beziehung (Therapeut-Patient-Beziehung und Motivation von Patient und Therapeut)
4. Selbstbezogenheit von Patient und Therapeut (Offenheit, Selbstwahrnehmung und Zufriedenheit beider Therapiepartner)
5. Realisationen von Patient und Therapeut (Einflüsse in und zwischen den Therapiesitzungen)
6. Zeitliche Aspekte der Therapie (Behandlungsverläufe)
Abb. 2.1: Beratungsprozess nach Kanfer et al. im Rahmenmodell des GMP (stark vereinfacht) (eigene Darstellung)
Das Prozessmodell von Orlinsky et al. (2004), das hauptsächlich für die Prozess- und Ergebnisforschung in der Psychotherapie entwickelt wurde, lässt sich auch auf den Beratungsprozess übertragen und bildet ein allgemeines Rahmenmodell für das im Folgenden dargestellte Sieben-Phasen-Modell von Kanfer et al. (2012). Es betont die Eingebundenheit von Berater und Klient in der Gesellschaft, ein Aspekt, der für eine Alltagsnähe der Beratung immer wieder betont wird, und die Bedeutung der Klienten- und Beratervariablen (
2.1 Beratungsphasen
Kanfer et al. (2012) legen aufbauend auf den Vorarbeiten von Kanfer (z. B. Kanfer & Grimm, 1980) ein psychotherapeutisches Prozessmodell vor, welches von Schmelzer und Trips (1996) und Schmelzer (2000) sowie Borg-Laufs (2004) auch auf den Beratungskontext und von Borg-Laufs und Hungerige (2010) auf die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien übertragen wurde. Es handelt sich dabei um ein Modell, welches den Beratungsprozess insgesamt in sieben aufeinander folgende Beratungsphasen unterteilt, die jeweils die Bedeutung unterschiedlicher Zielsetzungen und Interventionsschwerpunkte zu verschiedenen Zeitpunkten herausstellen. Selbstverständlich kann ein solches Modell Beratungsprozesse nicht vollständig abbilden. Es geht vielmehr darum, eine praktische Orientierungshilfe zu bieten. Die Phasen des Beratungsprozesses werden in Abbildung 2.2 dargestellt (
Abb. 2.2: Das Modell der Selbstmanagementtherapie nach Kanfer et al. (eigene Darstellung)
Phase 1 Beziehungsaufbau: Der Schwerpunkt der beraterischen Bemühungen muss zu Beginn des Beratungsprozesses darauf liegen, dass die Klienten und Klientinnen Vertrauen zum Berater bzw. zur Beraterin fassen und ihn oder sie als professionellen Helfer zur Selbsthilfe akzeptieren und nicht etwa als »Freund der Familie« oder »Kummerkasten« betrachten. Gleichzeitig werden Setting, Vorgehen und organisatorische Fragen geklärt und bereits erste problembezogene Informationen gesammelt.
Phase 2 Aufbau von Änderungsmotivation: Aufbauend auf der beraterischen Beziehung muss im nächsten Schritt die häufig zu beobachtende Mutlosigkeit und Resignation der Ratsuchenden verringert werden und ihnen die Hoffnung auf positive Veränderungen vermittelt werden. Gleichzeitig muss dies so erfolgen, dass die Klienten und Klientinnen erkennen können, dass diese Veränderungen nur durch eigene Anstrengungen zu erreichen sind. Mit ersten Ansätzen einer Zielklärung wird versucht, eine »Zugmotivation« (im Gegensatz zu der durch Leidensdruck entstehenden »Druckmotivation«) herzustellen.
Phase 3 Diagnostik: Erst wenn eine geeignete professionelle Arbeitsbeziehung hergestellt wurde und eine hinreichende Änderungsmotivation realisiert werden konnte, werden die Ratsuchenden so offen und konstruktiv mitarbeiten, dass sie auch tabuisierte und peinliche Inhalte offen aussprechen. Obschon von Beginn des beraterischen Prozesses an auch Informationen gesammelt werden, kann diese Informationssammlung erst nach erfolgreichem Beziehungs- und Motivationsaufbau erfolgreich (vorläufig) abgeschlossen werden.
Phase 4 Zielvereinbarung: Auch über Ziele wird vermutlich schon direkt zu Beginn des beraterischen Prozesses gesprochen. Eine abschließende Festlegung der Ziele kann aber erst dann erfolgen, wenn neben erfolgreichem Beziehungs- und Motivationsaufbau auch die relevanten Informationen vorliegen, aus denen hervorgeht, welche Ziele angesichts der Lebenssituation und der persönlichen Lage der Klientin oder des Klienten realistisch sind.
Phase 5 Planung, Auswahl und Durchführung spezieller Methoden: Vor dem Hintergrund aller vorhandenen diagnostischen Informationen und der erfolgten Zielklärung sind nun spezifische beraterische Strategien und Interventionen auszuwählen und durchzuführen. Je nach den zu verfolgenden Zielen, der Lebenssituation und den persönlichen Voraussetzungen werden unterschiedliche Methoden einzusetzen sein. Wann immer möglich, sollte aus den Erkenntnissen der Beratungs- oder Psychotherapieforschung abgeleitet werden, welches methodische Vorgehen im vorliegenden Fall am ehesten erfolgversprechend zu sein scheint.
Phase 6 Evaluation: Wenn die Zielklärung erfolgt ist, wird mit der Evaluation begonnen. Vorher ist dies nicht möglich, denn ohne klar operationalisierte Ziele ist keine sinnvolle Ergebnisevaluation möglich. Diese Überprüfung der erreichten Fortschritte im Hinblick auf die vereinbarten Ziele sollte während des gesamten beraterischen Prozesses erfolgen, aber der Schwerpunkt der Evaluation mit der abschließenden Bewertung, ob etwa die Beratung beendet oder weitergeführt werden soll oder ob die Hinführung zu einer anderen Hilfeform (z. B. Jugendhilfe oder Psychotherapie) sinnvoll ist, kann ja erst dann erfolgen, wenn die beraterischen Interventionen durchgeführt wurden (Phase 5).
Phase 7 Erfolgsoptimierung und Abschluss: Im Vordergrund der Beratung muss am Ende der Alltagstransfer und die Stabilisierung der bisher erlangten Fortschritte stehen. Schwerpunktmäßig muss also darauf geachtet werden, dass die Klienten möglichst weitgehend die Fähigkeit erworben haben, in der Beratung Gelerntes auch im Alltag selbstständig umsetzen und ggf. auch mit Rückschlägen umgehen zu können (Rückfallprophylaxe). Darüber hinaus muss möglicherweise ein besonderes Augenmerk daraufgelegt werden, die beraterische Beziehung vorsichtig aufzulösen (