Auch die parlamentarische Demokratie steht nicht unter dem Druck der Weimarer Zeit. Dennoch hat sich das Parteiensystem spätestens mit der dauerhaften Etablierung der AfD gewandelt. Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 24. September 2017 (Bundeswahlleiter 2017) führte zu einer Wiederauflage der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, die trotz ihrer Verluste im Vergleich zur vorherigen Bundestagswahl (in Klammern) über eine klare Parlamentsmehrheit verfügen: CDU 26,8 % (–7,4 %), CSU 6,2 % (–1,2 %), SPD 20,5 % (–5,2 %), AfD 12,6 % (+7,9 %), FDP 10,7 % (+5,9 %), Linke 9,2 % (+0,6 %), Grüne 8,9 % (+0,5 %). Bei der Europawahl 2019 (Bundeswahlleiter 2019) erzielte die AfD 11,0 % (+3,9 %), während die CDU 22,6 % (–7,5 %), die CSU 6,3 % (+1,0 %), die SPD 15,8 % (- 11,4 %), FDP 5,4 % (+2,1 %), Linke 5,5 % (–1,9 %) und Grüne 20,5 % (+9,8 %) erreichten. Mit der Veränderung des Parteiensystems wird die Regierungsbildung in Bund und Ländern schwieriger. Eine antidemokratische Mehrheit ist dort jedoch nicht in Sicht.
Allerdings verändert sich das politische Klima. Der Ton wird rauer. Ein älterer Sammelband konstatiert eine „gespaltene Gesellschaft“ (Lessenich und Nullmeier 2006), eine jüngere Analyse gar „feindselige Zustände“ (Zick 2016), abzulesen an verbaler und physischer Gewalt. Ähnlich wie in den 1920er Jahren kann ein allgemeiner „Aufstieg des Rechtspopulismus“ (Hirschmann 2017) festgestellt werden. „Bürgerliche Scharfmacher“ (Speit 2017) behaupten „Volkes Stimme“ (Niehr und Reissen-Koch 2019) zu sein. Die Debatte wird durch subtile Äußerungen und plakative Verlautbarungen, durch „Provokationen und Tabubrüche“ (Ernst 2017) angeheizt, deren Kommentierung selbst wieder kommentiert wird (vgl. http://lügen-presse.de/). Die Rede ist von „Lügen-presse“, „Systempresse“ oder auch „Pinocchiopresse“ (Martella 2017: 90). In den „Echokammern“ der sozialen Medien und des Internets potenziert sich der je eigene Eindruck. Der „mediale Filter- und Verstärkungseffekt“ (Daniel 2018: 62) schlägt sich im Bewusstsein derer nieder, die immer schon zu spüren meinten, dass sie von den Medien manipuliert werden. Die politische Kommunikationsforschung nennt solche Konstellationen Dialogblockaden (Klein 1996: 6).
Die politische Kultur der Weimarer Republik ist von solchen Dialogblockaden gekennzeichnet. Am deutlichsten hat der Staatsrechtler Carl Schmitt in seiner Schrift „Begriff des Politischen“ deren Grundlage und Konsequenz beschrieben, indem er als „spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, […] die Unterscheidung von Freund und Feind“ (Schmitt 1932/2015: 25) bestimmt und daraus den „Krieg als das extremste politische Mittel“ ableitet, das „die jeder politischen Vorstellung zugrunde liegende Möglichkeit dieser [18] Unterscheidung von Freund und Feind [offenbart]“ (ebd.: 34). Der für politische Einheiten, nicht für Privatpersonen geltende Freud-Feind-Gegensatz führt innenpolitisch in einen Bürgerkrieg, wenn die staatliche Einheit durch parteipolitische Gegensätze aufgehoben wird, wenn also „innerhalb eines Staates die parteipolitischen Gegensätze restlos ‚die‘ politischen Gegensätze geworden sind“ (ebd.: 31). Grundsätzlich kann dabei in den Augen von Carl Schmitt „[j]eder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz“ zu einem politischen werden, „wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren“ (ebd.: 55).
Wie sehr Carl Schmitts Darstellung dem Geist der Zeit entsprach, sollten die kommenden Jahre zeigen, in denen der an die Macht gekommene Nationalsozialismus entlang seiner von ihm selbst definierter Freund-Feind-Konstellationen ganze Gruppen von Menschen zu Feinden erklärte und sich an deren Auslöschung machte. Das stellt die Frage nach der Verfasstheit der Republik, genauer ob diese aufgrund unzureichender institutioneller Bremsen den Weg in Mord und Barbarei ermöglichte und wie das Grundgesetz in Reaktion auf das Scheitern der Weimarer Republik konstruiert und weiterentwickelt wurde.
2. Die Verfasstheit der Republik – Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz
Mit der Weimarer Reichsverfassung wurde das „Wagnis der Demokratie“ (Dreier und Waldhoff 2019) auf die Agenda der reichsdeutschen Staatlichkeit gesetzt. Für das Scheitern dieses Wagnisses wurde denn auch die Verfassung mit verantwortlich gemacht, was die Arbeit des Parlamentarischen Rats maßgeblich prägte: „Wie die geisterhafte Erscheinung eines nach verfehltem Leben unglücklich Abgeschiedenen hat die Weimarer Verfassung die Bonner Beratungen erfüllt und bedrückt“ (Werner Weber; zitiert nach Benz 2010: 416f.). Dennoch war die Weimarer Verfassung nicht nur eine Negativfolie, sondern durchaus auch Vorbild für das Grundgesetz (vgl. zum Folgenden Waldhoff 2019: 300ff.):
Zum „Gegenbild“ wurde die Weimarer Verfassung insbesondere in der Ausgestaltung des Verhältnisses von Parlament und Regierung auf der einen und Bundespräsident auf der anderen Seite. Dieser sollte kein Ersatzkaiser mehr sein, sondern vor allem repräsentative und formale Funktionen ausüben. Er ist nicht mehr als Gegengewicht zum Parlamentarismus angelegt. Hier hatte man vor allem die Präsidialkabinette der Jahre 1930 bis 1933 vor Augen. Der politischen Schwächung des Staatsoberhaupts entsprach eine stärkere [19] Stellung des Kanzlers („Kanzlerdemokratie“). Zwar scheiterten die meisten Koalitionen der Weimarer Republik am Unvermögen der Akteure sich parteipolitisch zu einigen, aber die Abwahl des Bundeskanzlers ist nur noch durch gleichzeitige Wahl eines Nachfolgers möglich (konstruktives Misstrauensvotum). Deutlich gegen die Weimarer Reichsverfassung gerichtet ist auch das starke Repräsentativsystem. Direkt demokratische Elemente finden sich kaum im Grundgesetz. Es ist von einem Misstrauen in die politische Vernunft der Deutschen geprägt. Man konnte und wollte sich nicht, auf die „Weisheit, Mäßigung und Kompromissbereitschaft derer verlassen, die damit umzugehen haben“ (Karl Loewenstein; zitiert nach Benz 2010: 418). Dagegen errichtete man zudem ein System der „wehrhaften Demokratie“ (z.B. Verbot verfassungsfeindlicher Vereine, Art. 9 Abs. 2 GG, und Parteien, Art. 21 Abs. 2 GG) und sicherte das Grundgesetz gegen Verfassungsaushöhlungen und durchbrüche durch eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit und über die „Ewigkeitsklausel“ (Art. 79 Abs. 3 GG) ab. Diese garantiert den Verfassungskern, den die Artikel 1 und 20 GG definieren: Garantie von Grund- und Menschenrechten, Demokratie, Republik, Rechtsstaat, Sozialstaat, Föderalismus.
Vorbild wurde die Weimarer Reichsverfassung jedoch insbesondere durch die Fortschreibung des Prinzips der Volkssouveränität und den Grundrechteteil. Darüber hinaus wurden die Bestimmungen zum Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften aus der Weimarer Verfassung ebenso ins Grundgesetz übernommen wie die zum öffentlichen Dienst.
Die Aufzählung macht deutlich, wie sehr die Weimarer Verfassung als Bezugsnorm für das Grundgesetz Geltung entfaltete, sie „schimmert tatsächlich im Grundgesetz fast überall durch“ (Benz 2010: 417). Man schrieb sie fort und um zugleich, adaptierte einzelne Elemente und setzte ganz bewusst Gegenpunkte, wo man sie für das Scheitern der Weimarer Republik mit verantwortlich machte. Aber war sie das wirklich und inwiefern?
Mit gewachsenem zeitlichen Abstand setzt sich in der historischen Reflexion ein distanzierterer Blick auf den Anteil der Weimarer Reichverfassung am Untergang der Weimarer Republik durch (vgl. Waldhoff 2019: 308ff.). So werden für die Endphase der Weimarer Republik ab 1930 drei Momente für das „Scheitern der Verfassung an den Verhältnissen“ (Kielmansegg 2019: 236) identifiziert: Erstens die Unfähigkeit der politischen Parteien eine tragfähige Koalition der demokratischen Kräfte im Reichstags abzuschließen, zweitens die Entscheidung einer Mehrheit der Wähler in der Wirtschaftskrise auf antidemokratische Parteien zu setzen und drittens das Vabanquespiel einer erzkonservativen Gruppe um den Reichspräsidenten, die die Situation nutzen wollte eine autoritäre Staatsordnung zu etablieren. Die Weimarer Verfassung trug aber weder Schuld an der politischen Kultur der Republik, noch kann sie für die Wahlergebnisse oder politische Hasardeure