• Vor 100 Jahren wurde die Weimarer Verfassung wirksam – damit wurde die erste parlamentarische Demokratie in Deutschland konstituiert und außerdem das Frauenwahlrecht eingeführt.
• Gestern vor 70 Jahren trat das Grundgesetz in Kraft, das die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger sichert und das Zusammenspiel der wesentlichen politischen Organe in der Bundesrepublik Deutschland festschreibt.
• Vor 40 Jahren wurde das Europäische Parlament erstmals in Direktwahl gewählt.
• Und vor 30 Jahren fiel die Berliner Mauer.
Ich freue mich zu sehen, dass die Veranstaltung auf so großes Interesse stößt. Denn es ist wichtig, sich von Zeit zu Zeit ins Gedächtnis zu rufen, welch wertvolles und schützenswertes Gut unsere Demokratie ist. Aktuell ist sowohl in Deutschland als auch in vielen anderen Ländern zu beobachten, dass Gruppierungen lauter werden und an Macht gewinnen, die nicht im Sinne der Freiheit und der Demokratie wirken (wollen). Gerade jetzt ist es deshalb von großer Bedeutung, dass wir es uns nicht zu bequem machen mit all diesen gesellschaftlichen Errungenschaften, sondern unsere Demokratie aktiv pflegen. Dies tun wir beispielsweise, indem wir für die Grundrechte eines jeden [10] Menschen einstehen oder indem wir am Sonntag bei den Europawahlen unsere Stimme abgeben.
Auch der Wissenschaft kommt eine Rolle bei der Wahrung unserer Demokratie zu: Sie muss die Freiheit nutzen, die ihr mit dem Grundgesetz gegeben wurde, darf und muss sich alleine der Wahrheit verpflichten und muss falschen Behauptungen entgegentreten. Dies umfasst auch, Gegebenes kritisch zu hinterfragen und immer wieder zu zweifeln und aus jeder Erkenntnis neue Fragen abzuleiten. In den letzten Jahren gab es einige weltpolitische Ereignisse, die wohl auch daraus resultieren, dass Fakten an Bedeutung verloren haben – für wichtige Entscheidungen scheinen Meinungen und Bauchgefühle relevanter als wissenschaftliche Erkenntnisse und wahre Sachverhalte. Alle fortschrittlichen und demokratischen Kräfte sind gefordert, sich dem Trend des „Gefühls statt Fakten“ entgegen zu stellen. Wir müssen Neugier, Wahrheitssuche und Erkenntnisgewinn fördern und verteidigen, damit wir weiterhin in einer offenen Gesellschaft leben können – dies auch und insbesondere den nachfolgenden Generationen zu vermitteln, ist eine wichtige Aufgabe von Ihnen als zukünftige Lehrerinnen und Lehrer. Sie wirken als besonders wichtige Multiplikatoren für den Erhalt unserer Demokratie – und dass Sie heute hier sind zeigt, dass Sie diese Herausforderung gerne annehmen werden.
Mein herzlicher Dank gilt Herrn Prof. Goll und seinem Team, die diese Veranstaltung ins Leben gerufen und organisiert haben, sowie allen Mitwirkenden am heutigen Tag und der Gesellschaft der Freunde der TU Dortmund, die die Veranstaltung finanziell unterstützt.
Ich wünsche Ihnen nun weiterhin eine interessante Veranstaltung und eine anregende Podiumsdiskussion als nächsten Programmpunkt. Herzlichen Dank.
Ihre Ursula Gather
Rektorin der Technischen Universität Dortmund
[11] Einleitung: Verfassung und Verfassungsrecht als Gegenstand politischer Bildung – Dokumentation des Verfassungstags an der TU Dortmund
Thomas Goll, Benjamin Minkau
Politische Bildung durch Gedenktage – Der Verfassungstag der TU Dortmund
Am 23.05.2019 wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 70 Jahre alt. Ein wahrhaft bemerkenswertes Alter für ein ursprüngliches Provisorium. Das Jahr 2019 war zudem auch das Gedenkjahr für 100 Jahre parlamentarische Demokratie in Deutschland, deren staatsrechtliches Gründungsdokument, die Weimarer Reichsverfassung, am 31. Juli 1919 von der Nationalversammlung mit großer Mehrheit angenommen wurde. Beide Verfassungen stehen in einem unmittelbaren Zusammenhang. Sie sind Ergebnisse großer politischer Umwälzungen und Meilensteine der demokratischen Entwicklung Deutschlands. Sie dokumentieren politische Verhältnisse und rahmen politische Prozesse. Wissen über und Verstehen von Verfassungen und Verfassungsrecht sind damit notwendige Elemente der historischen und politischen Urteilsfähigkeit. Diese Elemente zu vermitteln, muss daher Aufgabe der politischen Bildung und notwendiger Bestandteil politikdidaktischen Denkens sein (vgl. Goll 2017).
Anders als die Bundesrepublik Deutschland sollte sich die Republik von Weimar als wenig stabil erweisen. Schon bei der ersten Reichstagswahl verlor die Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und DDP nicht nur ihre verfassungsgebende, sondern die absolute Mehrheit, die sie in Wahlen nie mehr erreichen sollte. Bezeichnend ist auch, dass der Verfassungstag der Weimarer Republik, der 11. August, erst zwei Jahre nach der Verfassungsgebung eingeführt wurde und sich während des Bestehens der Weimarer Republik nicht in allen Ländern des Reichs als gesetzlicher Feiertag etablieren ließ (vgl. Poscher 1999). Dieser Umstand offenbart Mängel einer demokratischen politischen Kultur. Den Verfassungstag der eigenen Republik nicht angemessen zu feiern, ist als Menetekel für deren Akzeptanz zu werten. Wie sehr auch heute wieder um politische Symbolik gerungen wird, zeigt sich in vielen Beispielen, die Grenzen des Sagbaren neu zu ziehen und über Framing und Wording politische Kultur nicht nur [12] oberflächlich zu beeinflussen, sondern bis in ihre Tiefenstruktur zu verändern.
Um sowohl der Geschichte der Demokratie in Deutschland zu gedenken als auch den Zusammenhang von Verfassung und Verfasstheit ins Bewusstsein zu heben, führte der Lehrstuhl für integrative Fachdidaktik Sachunterricht und Sozialwissenschaften angesichts beider Jubiläen am 23. Mai 2019 eine Grundgesetz-Verteilaktion auf dem TU-Campus durch und veranstaltete am 24. Mai 2019 einen Verfassungstag an der TU Dortmund. Eine besondere Würdigung erfuhr diese Veranstaltung dadurch, dass Bundestagspräsident a.D. Prof. Dr. Norbert Lammert zu einer Podiumsdiskussion an die TU Dortmund kam, um mit Studierenden und Lehramtsanwärtern der Fächer der politischen Bildung ins Gespräch zu kommen. Ihm wie auch der Schulministerin des Landes Nordrhein-Westfalen Yvonne Gebauer sowie der Rektorin der TU Dortmund Frau Professor Dr. Dr. h.c. Ursula Gather ist für ihre Wertschätzung des Verfassungstages und ihre Beiträge zu danken. Dieser Dank gilt auch der Freundegesellschaft der TU Dortmund, die den Verfassungstag großzügig finanziell unterstütze.
Der vorliegende Band dokumentiert die ausgearbeiteten Vorträge des Verfassungstages und die Ergebnisse einer Gelegenheitsbefragung unter Studierenden der TU Dortmund über ihr Verhältnis zum Grundgesetz. Er adressiert in seinen Beiträgen Studierende, Lehramtsanwärterinnen und -anwärter sowie Lehrkräfte der Fächer der politischen Bildung. Er vereint historische, politikwissenschaftliche und politikdidaktische Perspektiven auf die Bedeutung des Grundgesetzes für die politische Bildung und identifiziert Desiderate und Herausforderungen für die Aus- und Weiterbildung zukünftiger und gegenwärtig unterrichtender Lehrkräfte, von denen viele fachfremd eingesetzt sind. Damit versteht er sich auch als bildungspolitischer Appell, die Themen Verfassung und Verfassungsrecht systematischer und stärker in die Lehramtsausbildung zu integrieren und angesichts der Herausforderungen für die Demokratie dabei nicht nur an Fachlehrkräfte der politischen Bildung, sondern im Einklang mit dem 2018 aktualisierten Beschluss der KMK „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“ an alle Lehrkräfte zu denken.
Aufbau dieses Buches
Der Band ist als Einheit zu verstehen. Da sich immer fachliche und fachdidaktische Perspektiven ergänzen, wurde auf eine nicht angemessene Untergliederung verzichtet. Dennoch ist der Aufbau nicht beliebig. Auf grundlegende fachliche Beiträge zur historischen Dimension der Thematik (Goll) und zu den [13] Verfassungswerten des Grundgesetzes (Detjen) folgen evidenzbasierte Beiträge zum Wissen von jungen Bürgerinnen und Bürgern in Nordrhein-Westfalen (Hahn-Laudenberg) und von Studierenden der TU Dortmund (Gronostay/ Minkau) über das Grundgesetz und politische Strukturprinzipien der Bundesrepublik Deutschland. Grundlegende fachdidaktische Überlegungen zum postulierten Stellenwert und zur tatsächlichen Präsenz von Verfassung und Verfassungsrecht für und in Schule und Lehrerbildung (Goll) leiten über zu konzeptionellen und methodischen Fragen im Zusammenhang mit der Mappe „Grundgesetz für Einsteiger“ der Bundeszentrale für politische Bildung (Krüger/Goll).
Der Band beginnt mit dem grundlegenden Beitrag von Thomas Goll „Berlin ist nicht Weimar“. Der Autor erörtert