3. Wenn wir es freilich richtig betrachten, so gibt es dem Wesen nach nur eine einzige Tugend; man nennt sie aber, wenn sie sich auf dem einen Gebiet als wirksam erweist, gewöhnlich Klugheit, auf einem anderen Gebiet Besonnenheit und wieder auf anderen Gebieten Tapferkeit oder Gerechtigkeit.517
4. In der gleichen Weise gibt es also auch nur eine einzige Wahrheit; aber in der Geometrie bezieht sich die Wahrheit auf die Geometrie, in der Musik auf die Musik und in der richtigen Philosophie auf das Griechentum. Unantastbar ist aber allein jene vollgültige Wahrheit, in der wir bei dem Sohne Gottes unterwiesen werden.
98.
1. In dieser Weise nennt man, wie ich meine, ein und dieselbe Drachme, wenn sie dem Schiffer gegeben wird, Fährgeld, wenn dem Zolleinnehmer Zoll, und Miete beim Hausherrn, Lohn beim Lehrer und Anzahlung bei dem Verkäufer. Jede einzelne aber der verschiedenen Erscheinungsformen, sei es der Tugend, sei es der Wahrheit, die alle mit dem gleichen Wort bezeichnet werden, kann nur die gerade ihr eigene Wirkung verursachen.
2. Durch ihre gemeinsame Wirkung aber entsteht das glückselige Leben (denn wir wollen doch nicht hinsichtlich der Worte glücklich sein), wenn wir das rechtschaffene Leben als Glückseligkeit bezeichnen und als glückselig den, dessen Seele mit Tugenden geschmückt ist.518
3. Wenn nun die Philosophie auch nur von fernher zum Auffinden der Wahrheit mithilft, indem sie mit verschiedenartigen Versuchen zu der Erkenntnis vorzudringen strebt, die sich nahe mit der bei uns gelehrten Wahrheit519 berührt, so hilft sie doch jedenfalls dem, der sich mit Eifer um die Erfassung der Erkenntnis auf dem Wege folgerichtigen Denkens bemüht.
4. Mag nun auch die griechische Wahrheit den gleichen Namen mit der bei uns gelehrten tragen, so ist sie doch von ihr geschieden durch die bei unserer Wahrheit vorhandene Größe der Erkenntnis, durch die größere Gültigkeit ihrer Beweise, durch ihre göttliche Kraft und durch ähnliche Vorzüge. Denn wir sind „von Gott gelehrt“520 und werden bei dem Sohne Gottes in wahrhaft heiligem Wissen unterrichtet. Infolge davon beeinflussen die beiden Formen der Wahrheit die Seele auch nicht auf die gleiche Weise, sondern mit verschiedener Lehre.
99.
1. Wenn wir aber wegen der Leute, die uns gern Vorwürfe machen wollen, noch eine ganz genaue Begriffsbestimmung geben sollen, so werden wir folgendes sagen: Da die Philosophie nach der Wahrheit sucht, ist sie Mitursache und Gehilfin bei dem Erfassen der Wahrheit; damit werden wir zugeben, daß sie eine Vorschule des Gnostikers ist, ohne daß wir die Mitursache als Hauptursache oder das Mithelfende als ausschlaggebend521 oder die Philosophie als unentbehrlich erklärten, da wir ja fast alle ohne die allgemeine Bildung und ohne die griechische Philosophie, zum Teil sogar ohne die Kenntnis des Lesens und Schreibens, veranlaßt durch die göttliche und barbarische Philosophie, „in Kraft“522 die Lehre von Gott durch den Glauben angenommen haben, durch selbsttätige Weisheit unterrichtet.
2.523 Dasjenige, was zusammen mit einem anderen eine Wirkung hervorbringt, während es für sich allein zu wirken außerstande ist, nennen wir mitwirkend und Mitursache, eine Bezeichnung, die davon herrührt, daß etwas zusammen mit einer Ursache Ursache ist oder nur in Verbindung mit etwas anderem zur Ursache wird, während es für sich allein die tatsächliche Wirkung nicht herbeiführen kann.
3. Freilich führte einst auch die Philosophie auch für sich allein die Griechen zur Gerechtigkeit, jedoch nicht zu der allgemeingültigen Gerechtigkeit (für die Erreichung dieses Ziels wird sie nur als mitwirkend erfunden, so wie die erste und die zweite Stufe beim Hinaufsteigen in das obere Stockwerk oder wie der Elementarlehrer dem behilflich ist, der einmal Philosophie treiben will) und auch nicht in dem Sinne, daß bei ihrer (der Philosophie) Beseitigung etwas an der allgemeinen Lehre fehlte oder die Wahrheit vernichtet würde, da ja auch das Gesicht und das Gehör und die Sprache bei der Erlangung der Wahrheit mithelfen, aber nur der Geist es ist, der sie völlig nach ihrem Wesen erkennt.
4. Aber von den zusammenwirkenden Kräften bringen die einen eine größere, die anderen eine geringere Wirkung hervor. So hilft die Fähigkeit klarer Darstellung mit zur Überlieferung der Wahrheit und die Dialektik dazu, daß man den Angriffen der Irrlehren nicht unterliegt.
100.
1. In sich vollendet und keiner Ergänzung bedürftig ist nun die Lehre im Sinne des Heilands, da sie „göttliche Kraft und Weisheit“524 ist; wenn aber die griechische Weisheit hinzukommt, so macht sie die Wahrheit zwar nicht wirksamer; aber weil sie die sophistischen Angriffe gegen sie entkräftet und die listigen Anschläge gegen die Wahrheit abwehrt, ist sie mit Recht Zaun und Mauer des Weinbergs genannt worden.525
2. Und während die im Glauben gewonnene Wahrheit zum Leben so nötig ist wie das Brot, gleicht die vorbereitende Bildung der Zukost und dem Nachtisch. „Beim Schluß der Mahlzeit ist doch noch Nachtisch erwünscht“, sagt Pindaros von Theben.526
3. Und die Schrift sagte geradezu: „Verständiger wird der Einfältige werden, wenn er aufmerkt, und der Weise wird Erkenntnis erlangen.“527 Und der Herr sagt: „Wer aus sich selbst redet, der sucht seine eigene Ehre; wer aber die Ehre dessen sucht, der ihn gesandt hat, der ist wahrhaftig, und keine Ungerechtigkeit ist an ihm.“528
4. Umgekehrt tut also derjenige Unrecht, der sich die Lehren der Barbaren aneignet und sich ihrer als eigener Weisheit rühmt, wobei er seine eigene Ehre mehren und die Wahrheit verfälschen will. Dieser ist es, der von der Schrift „Dieb“ genannt ist.529 Nun heißt es doch: „Mein Sohn, werde kein Lügner! Denn die Lüge zeigt den Weg zum Diebstahl.“530
5. Ferner besitzt der Dieb das wirklich, was er infolge seiner Entwendung in der Hand hat, mag es nun Gold oder Silber sein oder ein Wort oder ein Lehrsatz. Zum Teil ist also das, was sie gestohlen haben, wahr, aber sie wissen es nur auf Grund von Vermutungen und durch verstandesmäßige Schlußfolgerungen. Wenn sie sich aber entschließen, Jünger (des Herrn) zu werden, dann werden sie es erst in seiner ganzen Tiefe erfassen und verstehen.
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