„Oh nein, davon kann keine Rede sein!“, erwiderte Wang. „Aber so, wie sich die Bäume und das Gras der Steppe dem Wind beugen, werden wir uns auch beugen müssen. Wir sind nicht der Wind, Li – sondern das Gras.“
––––––––
Li schlief unruhig und unbequem auf dem nackten Boden. So weit wie möglich hatte sie sich zusammengerollt. Das Wiehern eines Pferdes und die rauen Rufe von Toruks Leuten weckten sie schließlich.
Li taten die Beine und das Gesäß weh. Jeder Muskel und jede Sehne bis hinauf zum Rücken schmerzten, als sie versuchte, sich zu erheben.
Wang bemerkte, wie es seiner Tochter ging. „Wir sind das Reiten nicht gewöhnt“, sagte er. „Nicht auf diese Weise zumindest...“
„Ich kann mich kaum bewegen“, meinte Li.
„Doch, du kannst“, sagte Wang. „Du kannst mehr aushalten, als du im Moment für möglich halten magst. Was immer geschieht – nimm es als Prüfung, so wie es der Weise Lao-she von uns fordert.“
Li widersprach nicht – denn auch, wenn ihr Vater im Moment einen wenig würdevollen Eindruck machte, so änderte dies nichts an dem tiefen Respekt, den sie vor ihm empfand.
Die Worte Lao-shes und anderer Weiser kannte sie sehr wohl. Aber im Augenblick glaubte sie nicht daran, stark genug zu sein, um diese Prüfungen zu bestehen.
––––––––
Noch ehe die Sonne aufging, wurde die Reise fortgesetzt. Von Norden her blies ein eisiger Wind, während sich im Osten bereits die ersten Strahlen der blutroten Morgensonne über den Horizont stahlen. Die Berge bildeten gezackte Schattenlinien, die sich dunkel und drohend dagegen abhoben.
Bevor der Zug aufbrach, verrichteten die Muslime unter den Uiguren ihr Morgengebet. Etwa zwei von zehn Männern bekannten sich zum Glauben an die Lehre Mohammeds. Die anderen waren offenbar bei den unter den Uiguren traditionell stark verbreiteten Manichäertum geblieben zu sein. Mit skeptischen Gesichtern betrachteten sie ihre betenden Gefährten.
„Als wir Uiguren noch ein großes Reich hatten, wäre es undenkbar gewesen, dass jemand etwas anderem als der Lehre des Mani folgte!“, hörte Li einen der Männer sagen. „Kein Vater sollte zulassen, dass seine Söhne auf Karawanen nach Westen ziehen, denn was sie von dort mitbringen sind ansteckende Krankheiten und diesen neuen Glauben, der sich verbreitet wie eine Pestilenz!“
Nach allem, was Li über die Lehren von Mohammed, Mani und Jesus wusste, war ihnen allen gemein, dass sie ihren Gläubigen auftrugen, alle Nichtgläubigen zu missionieren und dafür zu sorgen, ihren Glauben bis in die hinterste Ecke der Welt zu tragen.
Nur an einen einzigen Gott zu glauben, erschien ihr sehr eintönig und vor allem schien der Respekt vor den Ahnen nicht der Wert zuzukommen, den sie für angemessen gehalten hätte. Und so konnte Li es gut verstehen, dass es unter den Uiguren nicht wenige gab, die sich sowohl an den Gebeten zu Mani als auch an Allah beteiligten. Sie hatten wohl ihre ganz persönliche Mischung beider Glaubenswelten für sich gefunden oder wollten einfach auf Nummer sicher gehen, was wohl hieß, möglichst keinen Gott oder Propheten durch Nichtbeachtung zu beleidigen und sich so viel übernatürliche Hilfe wie möglich zu sichern.
––––––––
An das, was in den nächsten zwei Tagen geschah erinnerte sich Li später nicht mehr in allen Einzelheiten. Sie krallte sich am Sattelknauf ihres Reittieres fest und versuchte, nicht aus dem Sattel zu rutschen. Die Pausen waren selten, zu Essen gab es die ganze Zeit über nichts und nur dann, wenn die Pferde getränkt wurden, konnten auch die Gefangenen etwas von dem eiskalten Wasser der kleine Wasserläufe oder Quellen zu sich nehmen, die Toruks Leute offenbar hervorragend kannten.
Als dann in der Ferne ein Lager mit einigen hundert Jurten auftauchte, glaubte Li zunächst ihren Augen nicht zu trauen. Schließlich hatten sich die Reiter in den letzten Tagen bewusst abseits der Handelswege bewegt und waren außerdem allen Siedlungen ausgewichen, die es weit verstreut in diesem immer karger werdenden Land gab.
Eine Stadt aus Zelten lag vor ihnen und manche von ihnen waren größer als so manches Haus.
Toruks Männer trieben die Pferde auf dem letzten Teil des Weges noch einmal voran. Im Lager war man inzwischen auch auf die Ankömmlinge aufmerksam geworden und innerhalb kurzer Zeit hatten sich hunderte von Männern, Frauen und Kindern versammelt. Einige wolfsähnliche, halbwilde Hunde kläfften den Rückkehrern heiser entgegen. Die Benommenheit, die Li so lang betäubt hatte, war nun wie weggeblasen.
Toruk und seiner Männer ließen sich für ihren reichen Beutezug feiern, während die im Lager Gebliebenen sich um die Pferde kümmerten. Li wurde förmlich aus dem Sattel gerissen. Dutzende von Kindern fassten sie an.
„Sie sieht wie eine aus dem Han-Volk aus!“, hörte sie eine Frau sagen. „Wie die Soldaten, die euren Vater und eure älteren Brüder umgebracht haben!“
Daraufhin sahen Li die Kinder wie einen bösen Geist an. Sie wichen zunächst unwillkürlich zurück, während ihre Mutter ihnen sagte, dass die meisten Gefangenen dem Han-Volk aus dem Reich der Mitte entstammten. Ein Junge spuckte darauf hin aus. Wenig später wurde ein Klumpen aus trockenem, recht festem, aber nichts desto trotz entsetzlich stinkenden Kameldung geworfen. Li versuchte sich mit den Armen zu schützen.
Es folgten Steine und Erdklumpen, die durch die Luft regneten, während einer der Gefangenen rief, er sei doch ein Tangute und stamme keineswegs vom Han-Volk ab. Aber Tanguten schienen in diesem Zeltlager keineswegs beliebter zu ein, als Menschen aus dem Reich der Mitte. Und so bekam der Tangute – ein vornehmer Händler, dessen ebenso vornehme Kleidung durch den Gewaltritt der letzten Tage ohnehin schon arg gelitten hatte, noch ein paar zusätzliche Dreckklumpen ab.
Aber eine durchdringende Stimme ließ alle anderen verstummen. Es war Toruk höchstpersönlich, der diesen Mob zum Schweigen brachte. „Kümmert euch um die Pferde! Und gebt dann den Gefangenen Wasser, Decken und etwas zu essen!“
„Sind wir die Gastgeber dieser hochnäsigen Stadtleute?“, rief die Frau, deren Mann offenbar irgendwann im Kampf gegen die Soldaten des Reichs der Mitte umgekommen war. Wahrscheinlich bei einem der Überfälle, die die Nomaden inzwischen wohl schon bis ins Kernland führten. Oder sie hatten sich als Söldner eines aufständischen Kriegsherrn anwerben lassen. Die Frau verzog verächtlich das Gesicht.
„Diese Gefangenen sind wertvoller Besitz – und den wirst auch du pflegen wie einen guten Sattel!“, herrschte Toruk sie an, woraufhin sie verstummte.
|