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Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker
COVER STEVE MAYER
© 2010 by Alfred Bekker und Silke Bekker. Die Originalausgabe erschien im 2011 Goldmann Verlag unter dem Pseudonym Conny Walden.
© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Alles kann durch Nicht-Handeln bewegt werden.
Lao-she
Erstes Kapitel: Der Stoff, der die Gedanken trägt
Li strich sich mit einer schnellen, nervösen Geste die einzelne blauschwarze Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus ihrer Frisur herausgestohlen hatte. Die junge Frau hielt den Blick gesenkt und wirkte äußerlich vollkommen ruhig. Doch in ihrem Inneren herrschte ein Höchstmaß an Anspannung. Es bringt nichts ein, wenn der Bauer versucht, die Regenwolken zu beschleunigen, um genug Wasser für den Reisanbau zu haben!, erinnerte sie sich an eine Weisheit aus einem der aus feinstem Seidenpapier zusammengehefteten Bücher, deren Seiten von kunstfertigen Kalligrafen mit den Worten ehrwürdiger Weiser beschrieben worden waren. Manchmal gab es kleine Zeichnungen, die diese Sinnsprüche illustrierten. Bilder, die oft nur aus wenigen Strichen bestanden und auf den ersten Blick wie beiläufig dahingezeichnet aussahen. Doch ein zweiter Blick offenbarte stets das außerordentliche Können, das den Herstellern solcher Bücher eigen war.
Kein Wunder, dass solche Schriften mitunter ein Vermögen kosteten, wenn man nicht gerade in freundschaftlicher oder verwandtschaftlicher Beziehung zu jemandem stand, der diese Kunst beherrschte.
Li versuchte ihren Atem ruhig und stetig werden zu lassen, um auf diese Weise ihrer inneren Unruhe besser Herr zu werden.
Der Blick ihrer dunklen Mandelaugen, die genau in der Mitte eines feingeschnittenen, ebenmäßigen Gesichts lagen, war auf einen ernst dreinblickenden Mann gerichtet, dessen zu einem Zopf geflochtenes Haar bereits grau durchwirkt war. Dieser Mann war ihr Vater. Sein Name war Wang und er galt als einer der besten Papiermacher weit und breit. Kaum jemand verstand diese Kunst so wie er, kannte das Geheimnis, wie heftig die Stoffe zu Brei zerstampft werden mussten, aus denen dann der Stoff des Geistes und der Schrift werden konnte – Papier! Das Schöpfsieb zu handhaben, erforderte viel Übung und Geschick und selbst wenn die Blätter dann gepresst wurden, konnte man beim Lösen der Drehpresse noch alles verderben.
Wang nahm eines der fertig getrockneten Blätter empor und hielt es gegen das, durch das offene Fenster herein scheinende Sonnenlicht. Schließlich nickte der Meister und auf seinem bis dahin sehr streng wirkenden Gesicht erschien ein beinahe entspannter Zug.
Wang drehte den Kopf und sah seine Tochter an.
„Du bist eine gelehrige Schülerin gewesen“, sagte er. „Ich kann dir nichts mehr beibringen. Alles, was du jetzt noch zu lernen hast, wird die Erfahrung der Jahre bringen.“
„Ich danke dir für deine Worte“, sagte Li – unendlich erleichtert darüber, dass die Blätter, die sie angefertigt hatte, dem strengen Blick von Meister Wang standgehalten hatten. Ein verhaltenes Lächeln spielte um ihre Lippen. Das Gesicht ihres Vaters aber blieb ernst. Der Blick wirkte in sich gekehrt. Nachdem Lis Mutter vor Jahren der Seuche anheim gefallen war, die Seidenhändler aus Xingqing in die Gegend brachten, hatte Li ihren Vater nie wieder wirklich unbeschwert erlebt. Fast die Hälfte der Bevölkerung in der kleinen Stadt am äußersten westlichen Rand des Reiches Xi Xia hatte das Fieber hinweg gerafft. Darunter auch zwei von Lis insgesamt drei Brüdern. Der dritte Bruder war dann bei einem Überfall einer uigurischen Räuberbande ums Leben gekommen. Gold und Seide flossen seit langer Zeit die Seidenstraße entlang. In letzter Zeit war vor allem der Handel mit Pferden hinzugekommen, denn das Reich des im fernen Bian regierenden Kaisers wurde ständig von Aufständen bedroht. Dementsprechend groß war dort der Bedarf der widerstreitenden Mächte an Reittieren. Doch nach Pferden, Gold und Seide gierte es auch andere.
Der Handel an der Seidenstraße hatte auch dem Papiermacher Wang und seiner Familie Wohlstand gebracht. Da, wo Verträge geschlossen, Warenlisten aufgeschrieben und Wechsel ausgestellt wurden, brauchte man diesen besonderen Stoff fast so dringend wie die Handelsware selbst. Papier trug die Verse der Weisen aus Tibet, die Suren des Koran oder die Heilige Schrift der Nestorianer, die den Glauben an Jesus Christus bis an die Grenzen des Reichs der Mitte gebracht hatten, genauso wie Zahlen und Liefertermine. Überall waren daher die Künste der Papiermacher ebenso gefragt wie jene von Schreibern und Übersetzern.
„Die Kunst, die ich dich gelehrt habe, ist mehr wert, als ein Klumpen Gold oder ein großer Besitz“, sagte Wang an seine Tochter gewandt. „Besitz kann man dir nehmen, dein Wissen aber nicht. Die Zeiten sind unsicher und der Reichtum zieht die Räuber an wie das Licht die Motten. Aber niemand kann dir deine Fertigkeit in der Kunst des Papiermachens nehmen, die ich in deine Seele gepflanzt habe, so wie es mein Vater bei mir getan hat. Denk immer daran: Wissen und Können sind nicht nur dein wertvollster Besitz, sondern wohl auch der Einzige, den du mit Sicherheit behalten wirst, bis deine Seele zu den Ahnen gegangen ist.“
„Ich werde dieses Wissen immer in Ehren halten“, versprach Li.
„Du weißt, dass ich aus Erfahrung spreche“, fuhr Wang fort. Der Respekt gegenüber ihrem Vater verbot es Li, darauf hinzuweisen, dass sie diese Geschichte schon dutzendfach zu hören bekommen und ihre Lektion gewiss längst daraus gelernt hatte. „Du warst noch ein Säugling, als wir die Hauptstadt verlassen mussten“, fuhr Wang fort. „Aber es kommt mir manchmal vor, als sei es erst gestern gewesen... Eine gutgehende Papierherstellung gehörte mir und ich ließ zwanzig Gesellen für mich arbeiten!“ Wenn Wang von der Hauptstadt sprach, dann meinte er keineswegs die Hauptstadt von Xi Xia, sondern das ferne Bian, wo die Söhne des Himmels das Reich der Mitte regierten. „Der Kaiserhof