Li wurde auf ein Pferd gesetzt. Da ihr Kleid zum Reiten eigentlich nicht geeignet war, schlitzte der Uigurenkrieger, der ihr in den Sattel half, es kurzerhand mit seinem Schwert ein Stück auf.
Innerhalb von weniger als einer Stunde hatten die Uiguren alles auf den Rücken von Pferden gebracht, was sie mitzunehmen gedachten – Menschen und Waren. Ohnmächtig vor Wut stand so mancher Händler da, der hilflos mitansehen musste, wie seine Waren fortgeschafft wurden. Allerdings nur der Teil, der sich problemlos mitnehmen ließ. Krüge und andere zerbrechliche Gegenstände zerschlugen die fremden Reiter manchmal aus purem Mutwillen.
Allerdings wagte es niemand, sich zu wehren. Die Händler - die meisten von ihnen Perser – konnten froh sein, wenn man sie nicht für reich hielt, sodass es vielleicht lohnte, sie zu verschleppen und ein Lösegeld zu fordern.
Dieses Schicksal ereilte hingegen mehrere Dutzend Angehörige der angesehensten Familien. Die Uiguren nahmen immer nur ein Familienmitglied gefangen und gingen bei der Einschätzung des Reichtums der jeweiligen Familie schlicht nach der Ausstattung des jeweiligen Hauses oder der Art der Kleidung.
Li klammerte sich am Sattelknauf fest. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf dem Rücken eines Pferdes saß, denn hin und wieder war sie mit ihrem Vater oder dessen Gesellen die Nachbarorte abgeritten, um Lumpen aufzukaufen. Lumpen, die man zerstampfen und aus denen man schließlich den kostbaren Stoff fertigen konnten, der Gedanke und Gesetze trug und dessen ganz besondere Magie es sogar ermöglichte, dass er sich fliegend in die Lüfte erhob – vorausgesetzt man wusste ihn richtig zu falten und die Windgeister waren einem gnädig.
Auch die anderen Gefangenen wurden auf Pferde gesetzt. Sie zu fesseln schien man nicht für nötig zu halten. Schließlich war keiner von ihnen bewaffnet.
Darüber hinaus wurde jedes dieser gefangenen Pferde noch mit Gepäck behängt, darunter waren gepökeltes Fleisch, Felle, Decken und was den Uiguren sonst noch wertvoll erschien. Nur Waffen, Schmuck und Silbermünzen hielten Toruk und seine Männer von den Gefangenen fern. Gürtel und farbige Gewänder, die den Reitern gefielen und den ein oder anderen Zierdolch nahmen die berittenen Krieger sofort an sich. Dann preschte die Horde davon. Zurück blieben zahllose Tote. Wen die Uiguren von der tangutischen Stadtwache noch lebend aufgefunden hatten, war umgebracht worden. Schließlich wollte man verhindern, dass sie in Kürze verfolgt werden.
Die Zurückbleibenden waren waffenlose Händler und verzweifelte Angehörige der Verschleppten, die nun zusehen mussten, ein Lösegeld aufzutreiben. Und das, nachdem man gerade vollkommen ausgeplündert worden war! Wer keine reichen Verwandten andernorts hatte, für den sahen die Aussichten für eine Rückkehr schlecht aus.
Der Ritt war so scharf, dass Li Mühe hatte, sich im Sattel zu halten. Sie war völlig verkrampft und klammerte sich mit alle Kraft am Knauf fest. Die Uiguren nahmen die Pferde mit den Gefangenen in ihre Mitte. Es war keineswegs ausgeschlossen, dass diese dreisten Diebe, sich soeben genau die Pferde zurückholten, die sie zuvor auf dem Pferdemarkt feilgeboten hatten.
Li war sich nicht sicher, aber sie glaubte zumindest einen der Reiter wiederzuerkennen. Er ritt ganz in ihrer Nähe, hatte eine ledrige Haut, die von einem Faltenrelief durchzogen wurde. Das Haar war grau durchwirkt und sein Mantel wurde von einer messingfarbenen Spange zusammengehalten, die die Form eines gleichschenkligen Dreiecks besaß.
Das Zeichen der Manichäer!, erkannte Li. Dieser Glaube war selbst in die Kernlande des Reichs der Mitte vorgedrungen, wo seine Missionare behaupteten, der Prophet Mani sei nicht nur der Vollender der Lehre Jesu Christi gewesen, sondern auch eine Wiedergeburt des Weisen Lao-she. Li hatte sich von dem Eiferertum, das man unter den Anhängern Manis so häufig finden konnte, immer abgestoßen gefühlt. Aber all die strengen Regeln und die rigide Moral, der sich die Mani-Gläubigen unterwarfen, hielten sie offenbar nicht davon ab, sich als Räuber und Mörder zu betätigen. Raub und Handel waren für diese Nomaden ohnehin nur zwei Seiten ein und derselben Medaille.
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Den ganzen Tag über ritten sie ununterbrochen – abgesehen von einer kurzen Rast, die an einem Wasserloch eingelegt wurde.
Sie passierten stetig steiler werdende Anhöhen und erreichten schließlich ein gebirgiges Land, in dem der Boden immer steiniger und karger wurde.
Das Tempo, mit dem bisher die Pferde vorwärts getrieben worden waren, wurde etwas gemäßigter. Man stellte sich offenbar auf eine weite Reise ein und wollte die Tiere nicht zu Schanden hetzen. Li hielt sich in der Nähe ihres Vaters, und versuchte, sich nicht zu weit von ihm zu entfernen, soweit das möglich war, ohne bei den Uiguren Aufsehen zu erregen.
„Der Mann mit der Narbe – Toruk! Er scheint der Anführer zu sein“, sagte Li, als sie zwischenzeitlich etwas langsamer ritten, um die Pferde zu schonen. Die uigurischen Reiter hatten ein sehr feines Gespür dafür, wie viel sie ihren Reittieren zumuten konnten.
Wang nickte. „Ja, er könnte der Mann sein, den man anderswo auch den narbigen Schlächter nennt“, meinte er. „Der dicke Perser aus Samarkand hat mir davon berichtet, als ich ihm das Papier für seine Lieferlisten verkauft habe!“ Wang war weitaus besser an das Reiten gewöhnt, als seine Tochter. Er hatte Li davon erzählt, wie er schon als Junge von seinem Vater, der ebenfalls Papiermacher gewesen war, auf längere Botschaftsritte geschickt worden war. In Bian, mitten im Herzland der Mittleren Reiche war das zu jener Zeit ohne Gefahr möglich gewesen, denn niemand außer den Soldaten des Kaisers, hatte Waffen tragen dürfen. Der Sohn des Himmels garantierte die Sicherheit für alle und seine Gesetze hatte in jener Zeit noch unumschränkte Gültigkeit gehabt. So hatte niemand hatte befürchten müssen, unterwegs von Räuberbanden überfallen zu werden.
In Xi Xia waren die Verhältnisse in dieser Hinsicht allerdings immer schon weitaus unsicherer gewesen. Es war niemandem zu empfehlen, allein durch die Steppe zu reiten. Einer Frau schon gar nicht. Und selbst von schwer bewaffneten Eskorten begleitete Karawanen waren vor der Gier der Nomadenstämme nicht sicher. Manchmal konnte man sie mit Wegzoll zufrieden stellen. Dass sie so dreist waren, einen Ort mit Befestigungsanlagen anzugreifen, kam dagegen nicht so häufig vor. Li war sich inzwischen sicher, dass ihr der Manichäer mit der Dreiecksspange tatsächlich auf dem Markt begegnet war. Vermutlich erinnerte er sich gar nicht daran. Nein, er war auf ganz andere Dinge konzentriert gewesen, erkannte Li. Auch wenn der Manichäer damals so getan hatte, als wäre er einer der unzähligen Händler der Umgebung, so hatte er in Wahrheit wohl die Verhältnisse in der Stadt ausgekundschaftet.
„Was weiß man über den narbigen Schlächter?“, fragte Li, der inzwischen jeder Muskel ihres Körpers schmerzte und die nur noch zu den Göttern betete, dass dieser furchtbare Ritt bald ein Ende haben möge.
„Er ist der Sohn eines Uiguren-Khans in den westlichen Bergen.“
„Und der Herr von Xi Xia lässt ihn gewähren?“, fragte Li verständnislos.
„Du weißt, wie schwach der Kaiser von Xi Xia ist.“
Der Geselle Gao meldete sich nun zu Wort. „Solange niemand seine ferne Residenz angreift, wird er kaum etwas zu unternehmen versuchen“, war er überzeugt. „Dort schaut man gebannt nach Osten, wie der neue Sohn des Himmels sich behauptet und ob man ihm vielleicht in Zukunft wieder Tribut zahlen muss!“
Gao war ein gelehriger junger Mann, der das Handwerk des Papiermachers gut erlernt hatte, wie Meister Wang nicht müde wurde zu betonen – schon deswegen, damit Gao nicht auf die Idee kam, seine Kunst anderswo für gutes Silber zu verkaufen. Ihm hätte es schließlich frei gestanden,