Ein paar Gamsjahrlinge tauchen bereits hin und wieder aus den deckenden Weißerlen, den Laublatschen auf. Heute habe ich keine „ernsten Absichten“. Vielleicht kann ich meinem Freund ein jagdbares Stück ausmachen. Die Kipplaufbüchse lehnt am Baum und mein Schweißhund sitzt aufmerksam an meiner Seite.
Plötzlich knurrt die Hündin leise und äugt nach rechts. Dort schlängelt sich der Weg bergwärts zu einer vielbesuchten Unterkunftshütte hinauf. Schon höre ich Stimmen, und um die Krümmung des Pfades tauchen zwei Wanderer auf. Bald sind sie nahe heran. Ein älterer Mann, aufrechter Haltung mit gepflegt gestutztem, weißem Vollbart. Seine Begleiterin, eine mütterlich wirkende Frau, es könnte die Seine sein. Kurz bevor sie mich erreicht haben, verhalten sie ein wenig erschreckt den Schritt. So gut gedeckt,wie ich hier sitze, bin ich erst im letzten Augenblick zu erkennen.
„Oh, Herr Jäger, haben wir Ihnen was verscheucht?“
Ich beruhige sie, es sei ja noch sehr früh am Abend. Und so kommen wir ins Gespräch.
Ich freue mich immer, wenn aufgeschlossene Menschen mit dem Jäger reden. So kann man vieles an den rechten Platz rücken. Die beiden sind voller Wissbegier, was es hier zu jagen gibt. Sie bedauern, wie eigentlich alle Spaziergänger, mit denen ich mich unterhalte, dass man kein Wild mehr sieht. Ein großes Thema. Dann erzählt mir das Paar, sie seien Vegetarier, da sie die unwürdige Behandlung des Schlachtviehs nicht unterstützen wollen. Als ich ihnen den Unterschied darlege, wie im Gegensatz dazu das Wild normalerweise „geerntet“ wird, horchen sie auf. Den Ausschlag gibt dann auch das Argument der gesunden Ernährung. Dass Wildbret das annähernd gleiche Maß an gesundheitsförderlichen Omega-3-Fettsäuren wie Fisch hat, ist ihnen neu. Und dann kommt die immer wiederkehrende Frage an den Jäger: „Warum machen Sie das?“
Schier unerschöpflich reden wir über Jagd und Natur. Die zwei sind gescheite Frager und Zuhörer, und manche ihrer Fragen machen mich nachdenklich.
Als sie sich nach gut einer Dreiviertelstunde als zukünftige Wildbretesser verabschieden, bin ich mit meinen Gedanken wieder allein.
Was hat mir das Jäger-Sein gegeben? Neben der Freude am Beutemachen die Beute selbst, wobei die Trophäe auch eine gewisse Rolle spielt. Wie viele Stunden genussvollen Erinnerns haben mir die, von Unwissenden oft verspotteten „Schädel“ gebracht. Bei jedem einzelnen Stück kommt doch die Stunde, der Tag, das Drum und Dran der Jagd wieder aus dem Schatz der Erinnerung zurück. Wie oft stehe oder sitze ich vor einer meiner Gamskrucken, Hirschgeweihe oder einem Rehgwichtl, und dann ist alles wieder da. Da ich das Erlegte immer als hochwertiges Nahrungsmittel betrachte, so ist auch das für mich ein wichtiger Gesichtspunkt. Bei mir geht das, „horribile dictu–schrecklich zu sagen“ so weit, dass ich mir im Zoo, neben dem Bewundern der schönen Tiere, oft überlege: „Ja, wie schmecken denn die?“ Doch das liegt sicher nur an meiner „Verfressenheit“.
Den größten Wert für mich als jagenden Menschen sehe ich in dem intensiven, mit jeder Faser wachen und wachsamen Leben in und mit der Natur. Niemand, auch nicht der größte Naturfreund, muss so aufmerksam sein. Es fordert ihn auch nicht in dem Maße. Als Jäger muss ich unzählige Dinge beachten: Wetter, Windrichtung, Tageszeit, Äsungsplätze, je nach Jahreszeit vermutete Einstände, Weiserpflanzen.
Ich muss die Gewohnheiten aller Tiere, auch der nicht jagdbaren, in jeder Altersstufe kennen: Wann und wo kann ich welches antreffen. Je mehr ich darüber weiß, umso farbiger, schöner und unendlich reicher wird das Erleben. Jede Pflanze sagt mir etwas. Immer wieder muss ich dafür in Büchern nachschlagen und lernen. Und dann, speziell bei der Bergjagd, ist es die körperliche Herausforderung. Hier, wie auch sonst bei der Jagd, heißt es: Der Weg ist das Ziel. Und der Weg ist das Köstlichste. Auch wenn man erst im Nachhinein, nach aller Plag und Mühe, dessen Wert erkennt. Der Schuss ist ja außer im Berg meistens der Schlusspunkt. Wie oft muss ich gerade hier erkennen, wo meine körperlichen Leistungsgrenzen sind. Sei es vor oder nach dem Schuss, wenn es ans Bergen der Beute gehen soll.
Und dann – wie oft hat mich das Jagen zur Selbstbeherrschung ermahnt, wie oft zur Geduld. Ein immer wiederkehrender, oft schmerzlicher erzieherischer Lernprozess.
Allein zu sein oder mit einem schweigsamen, gleichgesinnten Begleiter unter dem freien Himmel ungestört seinen Gedanken nachhängen zu können, ist eines der kostbarsten Geschenke, die das Jagen mit sich bringen kann.
Von einigen Stationen dieses jägerischen Weges will ich in den folgenden Blättern erzählen.
„Horn auf!“ Erinnerungen an einen Neubeginn
Als in den ersten Nachkriegsjahren jedermann mit dem Wiederaufbau und dem Kampf ums täglich’ Brot sein Tagwerk verdingte, gab es Waidmänner, denen neben der Wiedererlangung der Jagdrechte auch die Erhaltung des jagdlichen Brauchtums am Herzen lag.
Einer dieser Männer der ersten Stunde war mein Lehrprinz, Dietrich Graf Bülow-Dennewitz. Nach der Flucht aus seiner Heimat Ostpreußen hatte er in München seinen neuen Wohnsitz gefunden. Er wurde der Lehrmeister einer kleinen Schar angehender, junger Jäger, die sich allwöchentlich in seiner Wohnung zum Jagdhornblasen traf.
Ich war damals noch Gymnasiast der Unterstufe und musste täglich eine Dreiviertelstunde mit dem Zug nach München zur Schule fahren. Ein Mitschüler der Oberstufe, der in seiner abendlichen Freizeit bereits im Orchester der Staatsoper spielte, erbarmte sich meines Defizits im Notenlesen. Während der Zugfahrt trällerte er mir die Jagdsignale aus dem Notenbuch vor. Als Gedächtnisstütze dienten mir die Texte, die es zu den Signalen gibt. Oft fuhren wir gemeinsam mit den Rädern in die Wälder. Mein Freund sang mir dann die Signale vor, und ich blies das Gehörte auf dem Pless-Horn, bis er zufrieden war. Bei den Bülow’schen Übungsabenden war ich dann den anderen, zu deren Erstaunen, schon immer einen Schritt voraus. Da wir sehr abgelegen wohnten, konnte ich ohne Störung der Nachbarn abends vor dem Hause üben.
In der nichtjagenden Bevölkerung war das Jagdhorn damals weitgehend unbekannt. Und so hörte ich eines Tages auf der Bahnfahrt, wie ein Mann einem Mitreisenden die Sensationsnachricht überbrachte: „De Ami blos’n scho’ wieder Alarm! Wahrscheinli’ geht’s jetzt gega de Russ’n!“
Unsere fünf Mann starke Gruppe war im Jahr 1950 reif für den ersten öffentlichen Auftritt. Ich bekam einen Bläserhut verpasst: Schwarz mit fünf Reihen grüner Kordeln. Unter dem zu großen Hut sah ich aus wie die „Maus unter der Teigschüssel“. Die Bezirksgruppe des Münchner BJV war stolz, mit uns eine der ersten Bläsergruppen der Nachkriegszeit zu haben. Für einige Jäger war jedoch das Jagdhornblasen ein Brauch, den sie als „preußisch“ ablehnten. Wir mussten des Öfteren hören: „In meinem Revier will ich keinen Ton hören, da wird nicht geblasen!“
In den frühen Fünfzigerjahren feierte Kronprinz Rupprecht von Bayern seinen 85. Geburtstag. Zu diesem Anlass beorderte uns der Jagdschutzverband nach Schloss Nymphenburg, um dem hohen Herrn einen Geburtstagsgruß mit dem Jagdhorn zu bringen.
Nach Ankündigung beim Haushofmeister platzierte man uns unter dem Fenster des greisen Jubilars. Doch unser Fürstengruß konnte selbst seinem Fenster-Vorhang keine Regung abverlangen. Man servierte uns jedoch Kognak und Brasil-Zigarren, wobei ich mir mit meinen 15 Jahren schon sehr erwachsen vorkam. Doch nach diesem Genusse musste ich mich sehr zusammenreißen, die Beine waren mir schwer, und Nymphenburger Schloss und Park drehten sich beängstigend.
Als eine der ersten bayrischen Bläsergruppen wurden wir, mangels anderer Corps, im ganzen Lande herumgereicht. Wo immer es ein größeres Jubiläum zu feiern gab oder eine größere Jagdveranstaltung stattfand, wir waren sehr gefragt. Oftmals fand am darauf folgenden Tag eine Treibjagd statt. Kein Mensch störte sich damals daran, dass ich erst den Jugendjagdschein hatte, mit dem ich eigentlich keine Gesellschaftsjagd mitmachen durfte.
Auch die Amerikaner, damals noch Besatzer, forderten uns an, da ihnen