Anré-Sé
Ein Name, der in Nirat-Sons Bewusstsein wie eine Verheißung widerhallte. Eine Verheißung, die mit einem Schmerz verbunden war, denn sein Verstand sagte ihm, dass er Anré-Sé niemals wieder sehen würde. Zumindest standen die Chancen dafür denkbar schlecht. Sie war geringer als die Möglichkeit bei einer der gottgefälligen Lotterien, deren überschüssige Einnahmen an Bedürftige verteilt wurden, den Hauptgewinn zu erzielen.
Anré-Sé
Der Stachel der kalten Erkenntnis saß tief in seiner Seele. Eine Erkenntnis, die schlicht und ergreifend darin bestand, dass diese anmutige Eierlegerin von ihrer Familie und den Priestern für einen anderen Tanjaj vorgesehen war. Es gab nichts, was das noch ändern konnte. Bei den Qriid sollte jeder den Partner bekommen, den Gott für ihn bestimmt hatte. Und nach Ansicht des Priesters war es nun mal Gottes Wille, dass Anré-Sé die zweite Eierlegerin des hohen Tanjaj-Offiziers Rer-Gar wurde.
Du musst gegen diese Gefühlsregungen ankämpfen. Schließlich sind wir das zivilisierte, auserwählte Volk Gottes. Kein Qriid lässt sich von Emotionen wie der Zuneigung zu einer Eierlegerin davon abhalten, seine Pflicht gegenüber seinem Imperium und seinem Glauben zu erfüllen! So hatte man es Nirat-Son eingeimpft. Sowohl in der Schule, als auch während der Ausbildung zum Tanjaj, die er mit Bestnoten beendet hatte. Der Weg in höhere Offiziersränge stand jemandem wie ihm offen, wenn er sich bewährte. Und das war unvermeidlich, denn das Imperium befand sich fast unablässig im Krieg. Nur beim Tod eines Aarriid, wie das religiöse Oberhaupt der Qriid genannt wurde, kam es bis zur Bestimmung eines Nachfolgers durch die Priester zu einer Unterbrechung. Schließlich wurde der Heilige Krieg, mit dem das Reich der Qriid seine Expansion vorantrieb, im Namen des Aarriid geführt und so war es undenkbar, dass der Krieg fortgesetzt wurde, ohne dass der Stellvertreter Gottes auf seinem rechtmäßigen Thron saß, um die Gläubigen zu führen.
„Träumst du, Nirat-Son?“, fragte eine Stimme, die schneidend klang und deren Worte von einem schabenden Geräusch unterstrichen wurden, wie er bei der Reibung von zwei Schnabelhälften entstand. Kalte, graue Augen blickten Nirat-Son an. Sie wirkten prüfend, geradezu durchdringend.
Dieses scheinbar bis auf den Grund seiner Seele blickende Augenpaar gehörte Tan-Balo, dem Kommandanten des Kriegsschiffes KRALLE DER GLÄUBIGEN. Der Kommandant trat auf den Tanjaj-Rekruten zu und öffnete leicht den nach unten gebogenen Schnabel, an dessen Unterhälfte er mit einer seiner Klauen entlang rieb. Die kräftigen, nach hinten geknickten Beine machten einen letzten Schritt. Die Krallen bewehrten Pranken, die bei den Vorfahren aus uralter Zeit angeblich einmal Flügel gewesen waren, wurden verschränkt. „Wir befinden uns in einer unbekannten Region des Alls“, sagte der Kommandant. „Unsere Aufgabe ist es, zusammen mit dem Flottenverband, dem wir angehören, diesen Sektor zu kartographieren, Daten technisch und astronomisch zu erfassen und die informationellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass unsere Expansion auch hier erfolgreich sein wird.“ Tan-Balo sog die sehr sauerstoffhaltige Luft in sich hinein. Eine leichte Anhebung des Sauerstoffwertes über den Normwert hinaus, konnte die Leistungsfähigkeit einer Schiffsbesatzung erheblich verbessern, so lauteten jüngste Forschungsergebnisse, die an der Universität von Qatlanor anhand umfangreicher Untersuchungen gewonnen worden waren. Seitdem war man dazu übergegangen den Sauerstoffgehalt in der Atemluft von Einheiten, die sich in einem heiklen Einsatz befanden, um drei Prozent zu erhöhen.
Dadurch ließen sich auch die für jeden Qriid unerlässlichen Schlafintervalle verkürzen, was vor allem auch innerhalb der imperialen Industrie große Aufmerksamkeit erzeugt hatte. Schließlich wurde hier jede Möglichkeit einer Effektivierung der kriegswichtigen Produktion gerne aufgegriffen.
Die Qriid kämpften an einer sich ständig vorwärts schiebenden Front, die stets irgendwo durch das All verlief und im Grunde unsichtbar blieb.
Die zweite Front, mit der das Imperium zu tun hatte, befand sich im Bereich von Industrie und Wirtschaft. Das Imperium lief ständig Gefahr, die eigenen Möglichkeiten zu überdehnen.
Und dieser Gefahr musste mit aller Kraft entgegen gehalten werden.
Kommandant Tan-Balo steuerte über eine Fernbedienung die Funktionen eines Bildschirms in bestechender Qualität, der die gesamte Wand des ansonsten sehr karg eingerichteten Konferenzraums an Bord der KRALLE DER GLÄUBIGEN.
Die qriidische Videotechnologie wäre durchaus fortgeschritten genug gewesen, um dreidimensionale Darstellungen zu erzeugen. Aber da die Qriid auf Grund ihrer weit auseinander stehenden Augen ohnehin ein schlechtes räumliches Sehvermögen besaßen, hätte das wenig Sinn gemacht.
Tan-Balo aktivierte die Weltraumansicht eines Planeten, dessen gelbe Sonne im Hintergrund leuchtete. Der Planet war vollkommen weiß. Ein schneebedeckter Eisklumpen, so schien es. Ein paar schmutzig-braune Flecken waren zu erkennen, bei denen sich wahrscheinlich um Ablagerungen handelte. Material, das der Planet im Laufe der Jahrmillionen aus dem Weltraum eingefangen hatte und das sich schließlich auf der Oberfläche ablagerte.
„Das ist Korashan-5, eine Welt, die einem Eisklumpen gleicht. Die anderen Planeten des Korashan-System weisen zwar allesamt sehr ungemütliche Lebensbedingungen auf, besitzen aber bedeutende Vorkommen an Rohstoffen, die für unsere Industrie notwendig sind“, erläuterte Tan-Balo. „Eine planetare Angleichung an die Qriidia-Norm könnte sich in dem einen oder anderen Fall durchaus lohnen.“
„Dann plant das Oberkommando des Tanjaj-Mar einen Ausbau des Korashan-System als industrielle Basis?“, erkundigte sich der Erste Offizier. Sein Name war Dom-Tabun. Seine Uniform war voll von Orden- und Ehrenzeichen, die ihn als einen Tanjaj – Glaubenskrieger - auswiesen, der sich mit ganze Kraft dem Kampf gegen die Ungläubigen gewidmet hatte. Der Umstand, dass ein Auge und ein Bein durch Prothesen ersetzt worden waren, sprach in diesem Zusammenhang für sich. Dabei waren sowohl die Augen- als auch die Beinprothese so beschaffen, dass man ihren künstlichen Ursprung sofort erkennen konnte. Man hatte sich in keiner Weise bemüht, den natürlichen Zustand nachzubilden, sondern es war volle Absicht, für jeden Betrachter gleich erkennbar werden zu lassen, welch großes Opfer dieser Glaubenskrieger für den permanenten Krieg des Heiligen Imperiums und die Errichtung der Göttlichen Ordnung gebracht hatte. Zusammen mit den Orden an seiner Brust ergab dies für junge Tanjaj-Rekruten wie Nirat-Son ein fast schon einschüchterndes Bild.
Nirat-Son hatte immer ein leichtes Schaudern bei diesem Anblick erfasst und er hatte sich gefragt, ob er zu denselben Heldentaten und dem hohen Grad an Selbstaufopferung fähig wäre wie Tan-Balo. Der Schmerz öffnet den Weg zum Glauben - dieses Axiom aus der qriidischen Weisheit des beinahe schon mythischen Ersten Aarriid, der vor vielen Zeitaltern auf dem Thron in Qatlanor als Stellvertreter Gottes residiert hatte, fiel Nirat-Son jetzt ein. Als Tanjaj war er nicht nur intensiv in Kampftechniken und Raumtechnik unterwiesen worden, sondern auch in der Glaubenslehre der qriidischen Religion.
„Deine Vermutung ist vollkommen richtig“, bestätigte Tan-Balo. „Und darum spielt auch Korashan V eine so wichtige Rolle. Alle anderen Korashan-Welten sind extrem wasserarm. Aber Sie wissen selbst, dass die Anlage von Industriekomplexen ohne das Vorhandensein von ausreichend Wasser so gut wie unmöglich ist. Darum möchte ich, dass Tanjaj-Nom Bras-Kon sich mit einem Beiboot auf die Oberfläche begibt, zum dort die Lage zu erkunden.“
Ein Tanjaj-Nom war ein niederer Offiziersrang innerhalb der sich selbst als gleichermaßen elitäre wie verschworene Gemeinschaft betrachtende Kaste der Gotteskrieger.
„Es wird mir eine Ehre sein!“, meldete Bras-Kon und seine Haltung straffte sich dabei.
„Du weißt, dass eure Expedition nicht die erste ist, die Korashan V anfliegt, und dass das letzte dort abgesetzte Außenteam unter mysteriösen Umständen verschwand. Zumindest brach der Kontakt ab und es wird unter anderem eure Aufgabe sein, nach dem Verbleib dieses Teams zu suchen. Letzte Meldungen besagten, dass unsere Glaubensbrüder auf Vertreter jener heidnischen und schnabellosen Spezies von Säugetierabkömmlingen trafen, von denen unsere Kundschafter vermuten, dass sie jenseits der unbekannten Zone ein großes Sternenreich besitzen.“
Tan-Balo