Trotzdem drang er immer weiter vor. Die Wut und der Haß, die in ihm gärten, und der draufgängerische Mut des hartgesottenen Karibik-Piraten, der vor nichts zurückschreckte, trieben ihn voran.
So langte er bei der Schmuckbalustrade an, die den Querabschluß zur Kuhl bildete.
Der Wind – jetzt aus Südosten wehend – strich pfeifend über die Insel und die Lagune und setzte dem Wasser eine kräuselnde Dünung auf. Die „Saint Vincent“ bewegte sich schwerfällig und schwojte an der Ankertrosse, ihre Blöcke und Rahen knarrten, das Wasser umspülte gurgelnd ihren Rumpf. Dies war die unheimliche Begleitmusik zu der wahrhaft gespenstischen Szene, die sich Grand Ducs Augen bot.
Er spähte zwischen zwei Pfosten der Schmuckbalustrade hindurch und konnte fünf reglose Gestalten erkennen. Vier lagen am Steuerbordschanzkleid, eine im offenen Vordeckschott. Grand Duc, dessen Augen sich ziemlich gut auf die Dunkelheit eingestellt hatten, sah, daß es sich nicht um Eingeborene von Hawaii, sondern um die Wachtposten des Schiffes handelte. Aus ihrer Kleidung konnte er dies eindeutig schließen.
Von den Insulanern war nichts zu entdecken.
Grand Duc beschloß, die Lage zu forcieren, sein Schicksal sozusagen herauszufordern, und richtete sich an der Schmuckbalustrade auf. So bot er etwaigen Heckenschützen seinen gewaltigen Oberkörper als Zielfläche dar.
Aber kein Schuß fiel.
Grand Duc lehnte sich etwas vor, spähte senkrecht nach unten und sah eine sechste Gestalt auf der Kuhl liegen – verkrümmt und augenscheinlich ohne einen Funken Leben im Leib. Es war einer der Piraten, die sich zur Wachablösung in der Mannschaftsmesse bereitgehalten hatten. Bis zum Achterdecksschott hatte er es geschafft, weiter nicht. Unter seinem Körper hatte sich eine dunkle Lache gebildet.
Grand Duc sah weder Picou noch die beiden anderen tropfnassen Männer neben sich. Er befand sich wie in Trance, als er jetzt zum Niedergang hinüberschlich, die Stufen hinunterstieg und auf die Kuhl trat.
Wenn sie ihn töten wollten, dann war dies die ideale Gelegenheit dazu.
Aber niemand griff ihn an, er konnte ungehindert zu dem Toten vor dem Achterdecksschott gehen und ihn einer kurzen Untersuchung unterziehen. Grand Duc konnte auch zu den vieren am Steuerbordschanzkleid hinüberwechseln und zu seinem Erstaunen registrieren, daß zwei von ihnen sich soeben bewegten und nach den Beulen an ihren Hinterköpfen tasteten, wobei sie üble Verwünschungen ausstießen. Grand Duc, Masots rechte Hand, begriff, daß alle vier nur bewußtlos geschlagen worden waren. Erst dann drehte er sich um, blickte nach Backbord und stellte fest, daß die zweite Jolle fehlte.
Nein, er hatte von seinem Boot aus nicht sehen können, wie die Insulaner die zweite Jolle hochgehievt und dann außenbords abgefiert hatten. Jetzt erst fand er die Erklärung für die lange Feuerpause, für die geisterhafte Stille, die nach dem Gefecht eingetreten war – und er stürmte zum Backbordschanzkleid.
Keine Jakobsleiter, nur zwei Taue waren dort belegt worden. Grand Duc lehnte sich über die Handleiste und sah die Taue außenbords baumeln. Daran also waren sie hinuntergehangelt.
„Picou!“ schrie er blind vor Wut.
Er hob den Blick etwas, spähte in die tiefe Finsternis der Lagune hinaus und glaubte plötzlich, die Umrisse der davongleitenden Jolle zu erkennen. Er wußte, daß es genausogut eine Täuschung sein konnte, aber er klammerte sich an diese letzte Möglichkeit, die Tat der Gefangenen zu vergelten.
„Picou, zu mir!“ brüllte er, dann löste er sich von dem Schanzkleid, eilte nach vorn und erklomm die Back mit zwei mächtigen Sätzen. Er stürzte an die linke der beiden auf der Balustrade der Back montierten Serpentinen, und dann erschien auch Picou, der natürlich begriffen und in aller Eile das Kupferbecken mit der immer noch glimmenden Holzkohle darin von der Kuhl mitgebracht hatte. Es war das Becken, in dem Andai kurz zuvor die Lunte für den 17-Pfünder entzündet hatte.
Grand Duc drehte das leichte Geschütz in der Gabellafette und richtete die Mündung auf jenen Punkt in der westlichen Lagune, an dem er die Jolle gesehen zu haben glaubte.
Picou entfachte die Lunte, als Grand Duc die Serpentine justiert und festgeschraubt hatte. Grand Duc entriß ihm den Luntenstock und zündete die Ladung selbst.
Die Serpentine krachte und rüttelte an der Gabellafette, als wollte sie sie aus der eisernen Verankerung reißen. Im Aufzucken des Mündungsblitzes glaubten Grand Duc und Picou die Jolle mit den Flüchtigen für einen Augenblick zu erkennen, aber dann erlosch der Schein, und die Wahrnehmung ging im finsteren Nichts unter.
Rauschend stieg eine Wasserfontäne auf, aber das Bersten von Holz und die Schreie tödlich Verwundeter blieben aus.
Grand Duc feuerte auch die zweite Serpentine ab – mit dem gleichen Mißerfolg. Zwei dröhnende Schüsse waren wirkungslos in der Nacht verpufft.
„Unsere Jolle bergen“, stieß Grand Duc hervor. Seine Schläfen- und Halsadern traten beängstigend hervor, soviel vermochte Picou trotz der Dunkelheit zu sehen. „Sie aufrichten, das Wasser ausösen, an Land und die Kameraden holen. Wir müssen ankerauf gehen und diesen Teufeln nachsegeln, wir …“
Er entdeckte die beiden anderen Kumpane. Sie hatten soeben die Back geentert und schnitten betretene Mienen.
„Habt ihr die Schiffsräume durchsucht?“ fragte Picou. „Nun redet doch schon! Was habt ihr gefunden?“
„Einen Toten im Vordeck“, erwiderte der linke der beiden Kerle.
„Ist es einer dieser braunen Hunde?“ fuhr Grand Duc ihn an.
„Nein. Einer von uns.“
„Und im Achterdecksgang liegt Henri. Er ist auch tot“, erklärte der andere leise.
Grand Duc sprach stockend, als bereite es ihm ungeheure Schwierigkeiten. „Die Geiseln – sind sie alle …“
„Sie sind alle geflohen, Grand Duc, daran besteht kein Zweifel“, sagte Picou. Die beiden anderen bestätigten es durch Kopfnicken.
„Die Jolle!“ brüllte Grand Duc sie an. „Die Jolle bergen, ihr Hunde!“ Er blieb stehen, als sie davonstoben und schüttelte den Kopf, als müsse er eine vernichtende Last abwerfen. Dann erst fiel ihm ein, daß er sich um ein Detail von außerordentlicher Wichtigkeit bislang noch nicht gekümmert hatte.
„Der Schatz“, murmelte er bestürzt. „Mon Dieu, der Schatz …“
Er verließ die Back, raste über die Kuhl, sprang über die Leichen, die den Achterdecksgang versperrten, und langte keuchend bei der Tür zur Kapitänskammer an. Er riß sie auf, stürzte zum Pult, öffnete die Schublade, entnahm ihr einen großen eisernen Schlüssel, verließ die Kammer wieder und eilte ein Deck tiefer zu einem verborgen liegenden Raum, zu dem nur Masot den Schlüssel hatte. Daß der Schlüssel im Kapitänspult aufbewahrt wurde, hatte er nur Grand Duc anvertraut.
Der Riese öffnete mit fliegenden Fingern die Tür. Er konnte nicht erkennen, was dahinterlag, als er sie aufzog, tat zwei tastende Schritte vorwärts und strauchelte dann fast über die schwere Truhe, die unverändert in der Mitte des engen, niedrigen Raumes stand.
Er bückte sich und öffnete sie, und er lachte heiser auf, als seine Finger bei der ersten flüchtigen Untersuchung voll in die prasselnden Gold- und Silberstücke griffen.
Pieces of eight. Achterstücke. Spanische Piaster, mehr als eine halbe Million davon. Thomas Federmann hatte sie ihnen ausgehändigt, als sie Hawaii besetzt hatten. Er hatte es tun müssen, es war ihm nichts anderes übriggeblieben, denn sonst hätte Masot alle Männer der Insel töten und die Frauen vergewaltigen lassen.
Grand Duc forschte weiter. Auch die zweite, kleinere Truhe, war noch da. Er hob auch ihren Deckel und stellte zu seiner Erleichterung fest, daß der Inhalt komplett war. Smaragdbesetzte Ketten, Armreifen und Diademe – „Esmeraldas“ aus Neu-Granada.
Grand Duc hatte nicht die geringste Ahnung, wie dieser Deutsche jemals an die grünen Diamanten