Die beiden anderen Männer im Beiboot waren Sam Roscill und Bob Grey. Der schlanke, dunkelhaarige Sam Roskill hatte wilde Zeiten als Pirat in der Karibik hinter sich. Seit er unter dem Kommando des Seewolfs fuhr, hatte er sich als Draufgänger und zuverlässiger Kämpfer bewährt. Ebenso Bob Grey, ein drahtiger blonder Mann, dessen persönliche Geschichte so verworren war, daß er damit unter den Seefahrern dieser Zeit kaum eine Ausnahme bildete. Bob war als Waise von Geistlichen erzogen worden, hatte irgendwann die Nase gründlich vollgehabt und war ausgerissen. Die See war sein neues Zuhause, die Planken der „Isabella“ seine vertraute Umgebung. Kein anderer an Bord war so geschickt als Messerwerfer wie Bob Grey.
Ed Carberry schob sein Rammkinn vor und blickte über die Schulter zur Insel. Noch drei Kabellängen. Die Risse im morschen Holz der gestrandeten Jolle waren bereits zu erkennen.
„Schlaft nicht ein, ihr gottverdammten Kanalratten!“ knurrte er. „Falls ihr es noch nicht kapiert habt: Der Tag fängt erst an! Wenn ihr glaubt, daß ihr euch jetzt schon aufs Ohr hauen könnt, habt ihr euch mächtig getäuscht. Ho, ihr faulen Säcke, wollt ihr wohl pullen? Oder braucht ihr erst einen Tritt in eure Affenärsche, damit ihr wach werdet?“ Zur Untermalung seiner wohlmeinenden Ansprache legte Carberry noch einen Schlag zu, und die Männer paßten sich grinsend an.
Die Herzlichkeiten ihres Profos waren wie das Salz in der Suppe. Keiner von ihnen mochte sich den Tag ausmalen, an dem sie Ed Carberrys Sprüche einmal nicht mehr hörten.
Achteraus schrumpfte die schlanke Galeone in ihrem Blickfeld. Hasard hatte sämtliches Tuch aufgeien lassen, die „Isabella“ schwojte sacht um die Ankertrosse.
Edwin Carberry und die fünf anderen hatten sich freiwillig gemeldet, wie der Seewolf es erwartet hatte. Doch wenn es nach dieser Freiwilligkeit gegangen wäre, dann hätte sich jetzt die gesamte Crew auf dem Weg an Land befunden. So hatte der Profos kurzentschlossen die Auswahl getroffen. Außer ihren Entermessern hatten sie sich mit Steinschloßpistolen bewaffnet und zusätzlich drei Musketen mitgenommen.
Denn wer oder was sie außer dem Schiffbrüchigen auf der Insel erwartete, mochte derzeit allein der Teufel wissen. Zwar vermutete Ben Brighton nach wie vor, daß es sich um eine unbewohnte Insel handelte. Aber die Seewölfe hatten dem Gehörnten zu oft in die grinsende Visage geblickt, um noch gutgläubig zu sein.
Wenn es dann noch solche haarsträubenden Überraschungen gab, wie sie es in Australien erlebt hatten, dann rüsteten sie sich lieber vorher für alles Mögliche und Unmögliche. Menschenfressern, deren grausiges Handwerk sie dort auf dem Kontinent der Känguruhs und Beuteltiere erlebt hatten, wollten sie kein zweites Mal begegnen.
Unvermittelt knirschte der Kiel des Beiboots auf Sand. Die Männer pullten noch einen kräftigen Schlag, holten dann die Riemen ein und sprangen außenbords. Das seichte Wasser reichte ihnen bis zu den Kniekehlen. Sie zogen das Boot an Land, nur ein paar Schritte von der verwitterten Jolle entfernt.
Der Schiffbrüchige lag unverändert an jener Stelle, an der sie ihn schon von Bord der „Isabella“ aus beobachtet hatten.
„Sehen wir uns den komischen Stint ein bißchen näher an“, knurrte Edwin Carberry und stapfte voraus. Im dunklen Sand hinterließen seine kahnförmigen Seestiefel tiefe Abdrücke. Wer den Profos kannte, wußte, daß seine Bemerkung durchaus fürsorglich gemeint war.
Dan O’Flynn, Matt Davies und die anderen folgten ihm. Die Entermesser klatschten gegen ihre Hüften, unter ihren Ledergürteln ruhten die schweren Pistolen. Sie nahmen sich nicht die Zeit, die Jolle zu untersuchen. Der Mensch, der sich hier in so offenkundiger Not befand, war wichtiger als alle Nebensächlichkeiten.
Ed Carberry kniete als erster vor dem reglosen Körper und beugte sich über ihn.
Seine Gefährten sahen sich um. Nirgendwo bewegte sich etwas, kein Laut war zu hören. Für diesen bedauernswerten Kerl hatte es auf der Insel allem Anschein nach keine helfende Hand gegeben. Sein persönliches Pech, daß er sich ausgerechnet dieses öde Eiland ausgesucht hatte.
„Merkwürdig“, brummte der Profos, „unterernährt sieht dieser Hering nicht gerade aus. Und atmen tut er auch noch. Wollen doch mal sehen …“ Er packte ihn an der Schulter, um ihn auf den Rücken zu drehen.
Die gesamte Crew hatte sich an Deck versammelt. Ausgenommen der Kutscher, der seinen Platz in der Kombüse nur dann zu verlassen pflegte, wenn sich Sensationen anbahnten. Und danach sah es seiner Meinung nach beim besten Willen nicht aus. Den Männern, die am Steuerbordschanzkleid der Kuhl lehnten, genügte indessen die Tatsache, daß sechs ihrer Gefährten unterwegs waren, um eine höchst unklare Sache klarer zu machen.
Diese Insel sah wahrhaftig aus wie ein toter Haufen Erde, wozu der gewaltige Vulkankegel in erheblichem Maße beitrug. Es schien nur noch eine Frage von Jahren oder Jahrzehnten zu sein, bis die Lavamassen auch den Rest des Tropenwaldes unter sich begraben haben würden. Menschen gab es hier bestimmt nicht. Davon waren die Seewölfe überzeugt. Wer konnte schon unter der ständigen Bedrohung durch so einen elenden Vulkan leben?
„Dad, was tut unser alter Affenarsch jetzt?“ erklang eine helle Stimme auf dem Achterkastell.
Die Männer auf der Kuhl konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen. Doch sie hüteten sich, in Gelächter auszubrechen. Der Seewolf verstand eine Menge Spaß. In dieser Beziehung aber nicht.
Hasard setzte das Spektiv mit einem Ruck ab und wandte den Kopf zur Seite. Ben Brighton, der neben ihm stand, mußte sich abwenden, um sein Lächeln nicht zu zeigen.
„Eins schreibe dir hinter die Ohren, Sohn“, sagte der Seewolf energisch. „Unser Profos heißt für dich nicht ‚unser alter Affenarsch‘, sondern immer noch Mister Carberry oder ‚Sir‘, wenn du ihn direkt anredest. Das gilt übrigens für euch beide. Sonst ist zu sagen, daß ich selbst nicht genau erkennen kann, was Mister Carberry gerade tut. Er untersucht nämlich den Schiffbrüchigen, und die anderen stehen um ihn herum.“
Hasard junior zog den Kopf zwischen die Schultern, biß sich auf die Unterlippe und senkte den Blick.
„Aber Dad“, entgegnete Philip junior ziemlich lautstark, „ich dachte, wir sollen nur dann nicht ‚unser alter Affenarsch‘ sagen, wenn er in der Nähe ist! Und im Moment ist er doch so weit weg, daß er uns gar nicht hören kann.“
Hasard schickte einen ergebenen Blick zum Himmel. Dann wandte er sich seinen Söhnen zu. Manchmal dachte er, daß es einfacher sein mußte, einen Sack Flöhe zu hüten, als diese beiden Strolche zu anständigen Kerlen zu erziehen.
„Ich sage es noch einmal laut und deutlich“, begann er gedehnt. Dabei zwang er sich, nicht den Zeigefinger zu erheben, denn das wäre ihm selbst lächerlich erschienen. „Es gibt grundsätzlich keinen alten Affenarsch. Wir haben überhaupt keinen solchen an Bord, mit Ausnahme Arwenacks. Jeder, der zur Crew gehört, ist für euch ‚Mister‘ plus Nachname, und er heißt ‚Sir‘, wenn ihr mit ihm sprecht. Noch Fragen?“
Die Zwillinge wechselten einen schnellen Blick. Äußerlich ähnelten sie sich wie ein Ei dem anderen. Beide waren schlank und schwarzhaarig und hatten scharfgeschnittene Gesichter wie ihr Vater. Geschmeidig wie Katzen waren sie in ihren Bewegungen, und schon jetzt, mit ihren zehn Lebensjahren, waren sie prachtvolle Burschen geworden.
„Nein, Sir, keine Fragen“, erwiderte Hasard junior lässig, daß dem Seewolf in väterlichem Zorn die Haarwurzeln kribbelten.
„Vielleicht nur eine“, fügte Philip vorsichtig hinzu, „gilt das auch für Bill, unseren Moses? Soll er jetzt auch ein ‚Mister‘ für uns sein?“
Hasard verschlug es für einen Moment die Sprache. Er fühlte sich buchstäblich auf den Arm genommen, und garantiert grinsten