Das Kartenmaterial, über das der Seewolf verfügte, war ziemlich ungenau. Es entsprach dem geringen Wissensstand, den europäische Seefahrer über diesen Teil der Welt hatten. Dennoch war Hasard nach seinen Berechnungen sicher, daß sie sehr schnell die Küste von Sumatra erreichen mußten. Jene Insel, die Java an Größe noch um etliches übertraf.
Einzelheiten wurden nun deutlich.
„Das sieht nicht sehr einladend aus“, bemerkte Ben Brighton.
Hasard sah es mit bloßem Auge. Ein schwarzer Vulkankegel reckte sich aus dem grünen Teppich des Tropenwaldes hoch, der die Insel bedeckte. Ruhig und friedlich thronte dieser kegelförmige Koloß dort inmitten üppiger Vegetation. Doch das Bild mochte trügen. Geschichten, die aus fernöstlichen Breiten überliefert wurden, berichteten von furchtbaren Katastrophen durch Vulkanausbrüche.
Es schien also denkbar, daß diese Insel tatsächlich unbewohnt war, wie Ben vermutete. Hasard schätzte die Größe des Eilands auf höchstens hundert Quadratmeilen. Dank der rauschenden Fahrt der „Isabella“ näherten sie sich rasch.
„Deck!“ tönte unvermittelt Bills Stimme aus dem Großmars. „Dort, am Strand! Ein Wrack!“
Ben Brighton justierte die. Optik des Spektivs. Auch der Seewolf nahm seinen Kieker zur Hand.
Der Strand dieser Insel war dunkel, fast schwarz. Stellenweise reichte die Vegetation bis unmittelbar ans Wasser. An anderen Stellen wiederum verlief der Strand flach und ausgedehnt bis zu düsteren Gesteinsmassen, die sich landeinwärts erstreckten. Erkaltete Lava zweifellos, die vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten das Dickicht unter sich begraben hatte.
Das Wrack, das Bill erspäht hatte, war selbst mit dem Spektiv nicht eben leicht zu entdecken. Denn die Entfernung betrug immerhin noch einige Seemeilen. Hasard mußte anerkennend feststellen, über was für gute Augen der Moses verfügte. Es war nicht das erste Mal, daß sich Bill auf solche Weise bewährte.
Wenn es einen Kontrast zu dem schwarzen Strand gab, dann nur die hellere, ausgebleichte Farbe verwitterten Schiffsholzes. Es handelte sich um eine Jolle, die fraglos nicht hier in Asien, sondern irgendwo im heimischen Europa zusammengezimmert worden war.
Hasard hielt sich nicht mit der morschen Nußschale auf, die offenbar auf den Strand getrieben worden war. Er ließ das Blickfeld des Spektivs weitergleiten. Stück für Stück und sorgfältig suchte er auf diese Weise den Strand ab. Ben Brighton tat es ebenso, und nahezu im selben Moment erspähten sie den Körper.
„Da!“ rief Ben. „Haargenau vor dem Palmengürtel!“
Hasard nickte, ohne den Kieker abzusetzen.
Es war ein regloser menschlicher Körper, der dort langgestreckt auf dem düsteren Sandboden lag. Nur wenige Schritte trennten ihn von jenem Palmengürtel, der der grünen Wand des Regenwalds vorgelagert war. Es handelte sich um einen Mann. Soviel war eindeutig festzustellen. Außer einigen hellen Stoffetzen trug er nichts mehr auf dem Leib. Alles deutete darauf hin, daß er sich mit letzter Kraft den Strand hinaufgeschleppt hatte und dann zusammengebrochen war. Vor Entkräftung, Hunger oder gar wegen einer Verwundung – es gab viele Möglichkeiten.
„Vielleicht ist er schon tot“, sagte Ben Brighton gedehnt. „Oder aber …“ Er sprach nicht weiter.
Hasard wußte auch so, was Ben sagen wollte. Dieser breitschultrige, untersetzte Mann hatte jene innere Ruhe, die auch sein Äußeres ausstrahlte. Selten ließ sich der Erste Offizier der „Isabella“ zu einer unbedachten Äußerung hinreißen. In diesem Fall hegte er eben Zweifel daran, ob der Schiffbrüchige auf dem Strand der Vulkaninsel wirklich schon tot sein konnte. Berechtigte Zweifel.
Jeder Mann an Bord der „Isabella“ wußte, welchen Launen des Schicksals man unterworfen war, wenn man sein Glück auf den Weltmeeren suchte. Für viele bedeutete die Seefahrerei letzten Endes alles andere als Glück. Davon konnten alle, die jemals einen Fuß auf Schiffsplanken gesetzt hatten, ein Lied singen. Jeder der Männer, die unter dem Kommando des Seewolfs fuhren, hatte schon die irrwitzigsten Zufälle erlebt. Böse Zufälle waren es meist gewesen, die das Leben gekostet hätten, wenn es nicht eine glückliche Fügung des Schicksals gegeben hätte.
Dies war es, was Ben Brighton ebenso in seinen Gedanken bewegte wie der Seewolf selbst. Sie konnten nicht einmal ahnen, durch welche Umstände der Schiffbrüchige dort auf die Insel getrieben worden war. Wenn es aber noch Hoffnung für ihn gab, so war die „Isabella“ in diesem Moment jene glückliche Fügung, die es auf See so äußerst selten gab.
Es gab Pflichten, denen sich ein Mensch nicht entziehen konnte. Daran hatte es für Philip Hasard Killigrew noch nie den geringsten Zweifel gegeben. Menschlichkeit war in einer Situation dieser Art für ihn das oberste Gebot.
Noch einmal betrachtete er die gestrandete Jolle genauer. Das Boot war verwittert, vom Salzwasser angefressen. Soviel war trotz der Entfernung zu erkennen. Welche Umstände dazu geführt hatten, blieb vorerst unklar.
„Wir sehen nach dem Rechten“, entschied der Seewolf.
Ben Brighton setzte das Spektiv ab und blickte ihn an.
„Ich habe es gewußt“, sagte er mit einem kaum erkennbaren Lächeln. „Hoffen wir nur, daß es keinen Ärger gibt.“
Hasard zog die breiten Schultern hoch. Er war mehr als sechs Fuß groß und schmal in den Hüften.
„Damit muß man immer rechnen. Hinter einem Zufall können sich die schlimmsten Überraschungen verbergen. Aber willst du dein Gewissen damit belasten, jemandem nicht geholfen zu haben, wenn es um sein Leben geht?“
„Nein“, erwiderte Ben Brighton entschlossen.
„In Ordnung. Wir ankern vor der Insel und setzen ein Boot aus. Sechs Mann. Sie sollen sich freiwillig melden.“
„Aye, aye, Sir.“ Bens Stimme klang jetzt fast militärisch. Er schob das Spektiv mit einem Ruck zusammen und trat an die vordere Schmuckbalustrade des Quarterdecks. „Alle Mann an Deck!“ Sein energischer Befehlston drang bis in den letzten Winkel der Galeone.
Innerhalb weniger Minuten wurde es auf der Kuhl lebendig. Nackte Fußsohlen klatschten auf die von der Feuchtigkeit glitschigen Planken. Stimmengewirr beendete die fast idyllische Ruhe, die bis eben noch geherrscht hatte.
Während sie sich der Insel näherten, vergewisserte sich Hasard abermals. Der Schiffbrüchige hatte sich nicht vom Fleck gerührt. Allem Anschein nach war jegliche Kraft aus seinem Körper gewichen, möglicherweise kam jede Hilfe für ihn schon zu spät.
2.
In gleichmäßigem Takt tauchten die Riemenblätter ins kristallklare Wasser. Das kleine Beiboot der „Isabella“ glitt mit rascher Fahrt durch den Wellengang, der sich klatschend am Bug brach und Gischtfahnen über die Köpfe der Männer wehen ließ. Die Sonne war höher gestiegen und stand mittlerweile über den Kronen der mächtigen Kokospalmen. Schon jetzt ließ sich die bevorstehende Hitze des Tages ahnen, denn die frische Morgenluft wich allmählich einsetzender drückender Schwüle.
Der Küstenstreifen erstreckte sich etwa in Nord-Süd-Richtung; der Strand bildete eine weitgeschwungene dunkle Linie vor der grünen Kulisse des Tropenwaldes. Vereinzelt lagen darin die erkalteten Lavafelder und erinnerten an häßliche Zahnlücken in einem menschlichen Gesicht.
Edwin Carberry, der bullige Profos der „Isabella“, pullte mit kraftvollen Zügen als Backbord-Schlagmann auf der achteren Ducht. Dan O’Flynn, schlank, jung und hochgewachsen, saß neben dem Profos und hatte keine Mühe, Carberrys Schlagzahl mitzuhalten.
Auch den anderen stand es in den Gesichtern, daß der kleine Landausflug eher ein Vergnügen als eine anstrengende Geschichte war. Luke Morgan, der gewitzte Bursche, der einst aus der englischen Armee desertiert war, hatte ein verwegenes Grinsen aufgesetzt. Wie stets, wenn sie sich Unbekanntem näherten. Die Messernarbe über Lukes Stirn leuchtete, er befand sich in dieser Stimmung, in der er mit