„Ich bin’s“, erklang eine heisere, offenbar mühsam unterdrückte oder irgendwie verzerrte Stimme. „Ilaria!“
Sie stolperte aus dem Gebüsch hervor. Die Augen des Piraten weiteten sich. Sie war völlig nackt.
„Die Spanier“, stammelte sie noch, dann brach sie zusammen. Das Messer hielt sie dabei so vor den Leib gepreßt, daß es aussah, als stecke die Klinge noch fest.
„Die Spanier?“ Er schritt auf sie zu. Waren die Spanier schon gelandet? Hatten sie Ilaria so zugerichtet? Er konnte kein Blut an ihrem Körper sehen, aber er war von dem Anblick ihrer Nacktheit fasziniert. Er glotzte sich die Augen aus dem Kopf. Nur noch drei, vier Schritte trennten ihn von ihr. War sie tot? Nein, unmöglich, sagte er sich. Aber was war ihr zugestoßen?
Weiter gelangte er mit seinen Überlegungen nicht. Hasard hatte ihn erreicht. Es war ihm gelungen, sich dem Mann lautlos zu nähern. Jetzt hob er das Entermesser und ließ den Griff auf den Kopf des Kerls niedersausen. Er traf, und der Kerl brach zusammen. Hasard nahm ihm die Muskete ab, ehe er damit Unheil anrichten konnte.
Er beugte sich über den Kerl und überzeugte sich davon, daß er auch wirklich ohnmächtig war. Dann sagte er leise: „Ilaria, du kannst aufstehen. Los, beeil dich. Wir müssen ihn fesseln und knebeln.“
Sie richtete sich auf und trat zu ihm. „Warum hast du ihn nicht getötet?“
„Ich bin kein Meuchelmörder.“
„Verrückt“, murmelte sie.
„Keineswegs“, sagte er. „Ich töte keinen Gegner von hinten, auch den größten Hundesohn nicht. Los, zieh dir dein Kleid wieder an. Du hättest das Ablenkungsmanöver auch etwas einfacher hinkriegen können.“
„Nein. Ich weiß, wie man diese Kerle nehmen muß.“
Er schüttelte nur den Kopf und wandte sich ab. Neben dem Katapult hatte er eine Taurolle entdeckt, damit fesselte er den bewußtlosen Kerl. Einen Knebel konnte er auch sehr schnell herstellen.
Ilaria lief ins Dickicht, tauchte darin unter und kehrte bekleidet zu Hasard zurück. Es ist nicht der richtige Moment, Seewolf, dachte sie, du hast recht. Aber wenn du mich erst richtig betrachtest, gehen dir die Augen über.
Hasard schleppte den überwältigten Gegner ins Gebüsch, versteckte ihn und vergewisserte sich, daß er sich aus eigener Kraft nicht befreien konnte. Dann eilte er zu dem Katapult zurück und untersuchte es kurz. Trotz des Ernstes der Lage mußte er grinsen. Das Katapult war der Abschußvorrichtung für die Höllenflaschen an Bord der „Isabella“ nicht unähnlich. Wenn Ferris das gewußt hätte! Er war schon über die Tontopf-Granaten erbost gewesen, aber daß Mardengo auch die Idee mit der Schleuder gehabt hatte, würde ihn noch mehr in Wut versetzen.
„Hier steht ein Kupferbecken mit glühender Holzkohle“, flüsterte Ilaria. „Der Kerl muß die Glut geschürt haben, für alle Fälle. Und hier sind die Töpfe. Soll ich dir einen reichen?“
„Her damit“, sagte Hasard. Er plazierte den Topf in der Pfanne des hölzernen Schwenkarms, zündete die Lunte an und wartete, bis sie um etwa einen Zoll heruntergebrannt war. Er löste den Arretierhebel, und der Arm sauste hoch.
Der Topf segelte zischend durch die Nacht, beschrieb eine bogenförmige Flugbahn und landete auf dem Ufer von Skull-Eiland. Hier explodierte er. Der Donner mischte sich in das Wummern der Schiffsgeschütze. Der Feuerblitz, der einige Yards hochstach, mußte bis zum Lager der Piraten zu sehen sein.
Hasard schwenkte das Katapult herum und zielte auf den Strand der Bucht. Ilaria half ihm und zeigte ihm, wo sich die Werft befand. Hasard brachte den hölzernen Arm in Feuerstellung zurück, arretierte ihn und legte den nächsten Pulvertopf auf die Pfanne. Dann zündete er die Lunte an.
Auch diese Ladung raste los und detonierte auf dem Strand, nur ein paar Schritte von der Werft entfernt. Hasard nahm das nächste Geschoß, zielte sorgfältiger, löste erneut den Sperrhebel und verfolgte die Flugbahn. Diesmal traf er die Werft – donnernd erfolgte die Explosion, und die Trümmer des im Bau befindlichen Schiffes wirbelten durch die Luft.
„Weiter so!“ stieß Ilaria begeistert aus.
Hasard setzte das Feuerwerk fort, er hatte noch ein halbes Dutzend Tontöpfe zur Verfügung. Ladung um Ladung ging hoch, und jedesmal traf er die Werft, die jetzt Feuer fing und hell zu lodern begann.
Oka Mama muß blind sein, wenn sie das nicht sieht, dachte er grimmig.
Oka Mama stieß einen Fluch aus. „Die Werft!“ schrie sie. „Sie ist getroffen!“
„Was hat das zu bedeuten?“ rief einer der Piraten, der vor den Hütten Wache hielt. „Sind die Spanier in der Bucht? Warum hat Pedro uns kein Zeichen gegeben?“
Pedro – so hieß der Mann, der jetzt gefesselt und geknebelt im Dickicht der Landzunge lag.
Oka Mama wußte nicht, warum er sich nicht gemeldet hatte, aber ihr war klar, daß etwas nicht stimmen konnte. Ohne ihren ausdrücklichen Befehl hätte er das Katapult nicht bedient – und warum wurde ausgerechnet die Werft mit den Wurfgranaten beschossen?
Die Spanier hatten die Werft besetzt – dies schien eine Erklärung zu sein. Sie sann nicht weiter darüber nach.
„Zwei Männer zu mir!“ schrie sie. „Wir müssen nachsehen, was da los ist!“
Sie bewaffneten sich bis an die Zähne, dann rückten sie zu dritt ab und eilten über den Pfad zur Bucht. Oka Mama konnte erstaunlich schnell laufen, sie raffte die Schöße ihres Kleides mit einer Hand hoch. Die beiden Kerle hatten fast Mühe, ihr zu folgen. Sie fluchten.
Es dauerte nicht lange, und sie hatten das Ufer der Bucht erreicht. Der Feuerschein erhellte ihre Gestalten. Sie duckten sich ins Dickicht und starrten aus geweiteten Augen zu der lodernden Werft. Kein Gegner war zu sehen. Die Werft war nicht mehr zu retten. Das Schiff war bereits völlig zerfetzt, und die letzten Trümmerteile verbrannten.
„Verdammt“, sagte Oka Mama. „Was geht hier vor?“
„Da hat uns jemand einen Streich gespielt“, murmelte einer der Piraten hinter ihrem Rücken.
Mit wutverzerrtem Gesicht fuhr sie zu ihm herum. „Einen Streich? Du elender Narr! Wer immer hier umherschleicht, er ist imstande und legt noch mehr Feuer. Was ist, wenn er den Dschungel anzündet?“
„Wir müssen ihn finden und töten“, sagte der zweite Pirat.
„Los, beeilen wir uns“, zischte die Alte. „Der Hund hat das Katapult benutzt, um die Werft zu zerstören – und auch drüben, auf Skull-Eiland, muß eine Wurf bombe detoniert sein. Wir müssen auf die Landzunge, nachsehen, was mit Pedro geschehen ist, und den Gegner erledigen.“
Sie liefen weiter, erreichten den Pfad, der zur Landzunge führte, und folgten in größter Hast seinem Verlauf. Oka Mama hatte immer noch keine Ahnung, ob es wirklich die Spanier waren, die die Störaktion durchgeführt hatten. Hätte sie die Hütte kontrolliert, in der sie die sechs Mädchen eingesperrt hatte, wäre sie bereits einen Schritt weiter gewesen. Sie hätte sofort gesehen, daß Ilaria fehlte, und sie hätte auch die Öffnung in der Rückwand entdeckt. Den Rest hätte sie sich leicht zusammenreimen können.
So aber blieb vorläufig noch alles im Ungewissen. Erst wenn sie Pedro, den Wächter, fanden, klärte sich alles auf. Dies nahm jedoch wiederum einige Zeit in Anspruch, denn Pedro war mittlerweile zwar aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht, konnte sich aber nicht bemerkbar machen, weil er gefesselt und geknebelt war. Hasard hatte ihn sorgfältig verschnürt, er wußte, daß fast alles davon abhing.
Oka Mama und die beiden Piraten bemerkten die beiden Gestalten nicht, die zum Greifen nah neben dem Pfad im Dickicht kauerten, als sie zur Landzunge stürmten. Hasard und Ilaria verhielten sich still und regten sich nicht. Sie erhoben sich erst wieder, als sie sicher sein konnten, daß die Piraten sie selbst dann nicht mehr entdeckten, wenn sie sich umdrehten. Die Nacht hatte ihre Gestalten verschluckt.
Der Seewolf griff