PERSÖNLICHKEIT BESTEHT AUS ANLAGE UND ERZIEHUNG
FRANCIS GALTON (1822–1911)
IM KONTEXT
ANSATZ
Biologische Psychologie
FRÜHER
1690 Der englische Philosoph John Locke postuliert, dass der Geist von Neugeborenen ein unbeschriebenes Blatt sei, alle werden also gleich geboren.
1859 Der Naturforscher Charles Darwin behauptet, dass jede menschliche Entwicklung aus der Anpassung an die Umwelt resultiere.
1890 William James äußert, dass alle Menschen genetisch vererbte individuelle Neigungen oder »Instinkte« haben.
SPÄTER
1925 Der Behaviorist John B. Watson sagt, dass es so etwas wie die Vererbung von Fähigkeiten, Talenten, Temperament oder einer geistigen Verfassung nicht gebe.
1940 Die Nationalsozialisten entwickeln ihre Rassenlehre auf Grundlage der Eugenik.
Francis Galton hatte eine illustre Verwandtschaft. Der Naturforscher Charles Darwin, der sich mit der Evolution beschäftigte, war sein Cousin. Daher überrascht es nicht, dass Galton sich für die Frage interessierte, ob menschliche Fähigkeiten angeboren sind oder erlernt werden. Er war der Erste, der »Anlage« und »Umwelt« als zwei getrennte Einflussgrößen betrachtete und behauptete, sie allein seien für die Ausprägung der Persönlichkeit verantwortlich. Um herauszufinden, welche Merkmale vererbt werden, nahm er den Stammbaum seiner eigenen Familie sowie die Stammbäume von Richtern, Staatsmännern, Feldherren, Wissenschaftlern, Literaten, Wahrsagern, Ruderern und Ringern unter die Lupe. Die Ergebnisse veröffentlichte er in seinem Buch Hereditary Genius (1869, Genie und Vererbung). Wie vorauszusehen, war er in bestimmten Familien auf mehr hochbegabte Individuen gestoßen als im Bevölkerungsdurchschnitt. Dass für eine optimale Entwicklung der »Geisteskräfte« auch ein privilegiertes häusliches Umfeld von Vorteil ist, räumte Galton ein.
»… charakteristische Merkmale [haften] an Familien …«
Francis Galton
Eine notwendige Balance
Galton führte eine Reihe weiterer Studien durch. Unter anderem befragte er die Mitglieder der Royal Society per Fragebogen über ihre Interessen und Neigungen. Diese Ergebnisse finden sich in seinem Buch English Men of Science. Er kam zu dem Schluss, dass stets die Natur triumphiere, wenn die Erziehung im Widerspruch zu den Anlagen stehe. Die »tieferen Merkmale des individuellen Charakters« seien unauslöschlich. Allerdings könne auch ein großes natürliches Talent regelrecht ausgehungert werden, wenn die richtige Geistesnahrung fehle. Intelligenz sei zwar vererbt, müsse aber durch entsprechende Pädagogik gefördert werden.
1875 untersuchte Galton dann 159 Zwillingspaare. Er fand heraus, dass sie einander entweder extrem ähnlich oder extrem unähnlich waren, daran änderte sich auch nichts. Galton hatte angenommen, dass unähnliche Zwillinge, die in derselben Familie aufwuchsen, einander ähnlicher würden. Doch er musste feststellen, dass dies keineswegs so war. Die Erziehung schien überhaupt keine Rolle zu spielen.
Francis Galton prägte den Begriff »Eugenik«. Noch heute glauben manche, dass Menschen sich wie Pferde »züchten« ließen. Andere sind der Auffassung, der Geist eines Neugeborenen sei eine »Tabula rasa«, ein unbeschriebenes Blatt, und folgern daraus, dass wir alle gleich geboren werden. Die meisten modernen Psychologen erkennen indessen an, dass die individuelle Entwicklung sowohl von der Veranlagung als auch von Umwelteinflüssen abhängt und dass beide Faktoren auf komplexe Weise ineinandergreifen.
In seiner Zwillingsstudie suchte Galton nach Ähnlichkeiten, etwa bei Größe, Gewicht, Augenfarbe und gewissen Anlagen. Was Zwillinge immer unterschied: die Handschrift.
Francis Galton
Sir Francis Galton war ein Universalgelehrter, der sich unter anderem zu anthropologischen und kriminologischen Fragen (Klassifizierung von Fingerabdrücken) äußerte. Auch mit Geografie, Meteorologie, Biologie und Psychologie beschäftigte er sich eingehend. Er wurde in Birmingham in eine wohlhabende Quäkerfamilie hineingeboren und konnte angeblich schon im Alter von zwei Jahren lesen. Zunächst studierte er Medizin, dann wandte er sich der Mathematik zu. Während des Studiums litt er unter psychosomatischen Symptomen, die sich durch den Tod seines Vaters im Jahr 1844 noch verschlimmerten. 1853 heiratete Galton Louisa Jane Butler, die Ehe blieb kinderlos. Galton widmete sein Leben der Wissenschaft und dem Schreiben. Er erhielt viele Preise und Ehrungen, darunter mehrere Ehrendoktorwürden. Im Jahr 1909 wurde er in den Adelsstand erhoben.
Hauptwerke
1869 Genie und Vererbung
1874 English Men of Science: Their Nature and Nurture
1875 The History of Twins
DIE GESETZE DER HYSTERIE SIND UNIVERSAL
JEAN-MARTIN CHARCOT (1825–1893)
IM KONTEXT
ANSATZ
Neurowissenschaft
FRÜHER
1900 v. Chr. Auf dem ägyptischen Papyrus Kahun ist zu lesen, dass Verhaltensstörungen bei Frauen durch ein »Umherschweifen« der Gebärmutter verursacht würden.
um 400 v. Chr. Der griechische Arzt Hippokrates verwendet in seinem Buch Die Frauenkrankheiten den Begriff »Hysterie« für bestimmte Frauenleiden.
SPÄTER
1883 Alfred Binet folgt Charcot an das Hôpital de la Salpêtrière in Paris und beschreibt später, wie dieser Hysterikerinnen mit Hypnose behandelte.
1895 Sigmund Freud, ein ehemaliger Student Charcots, publiziert seine Studien über Hysterie.
Der französische Arzt Jean-Martin Charcot, der als Begründer der modernen Neurologie gilt, interessierte sich für den Zusammenhang zwischen Psychologie und Physiologie. In den 1860er- und 1870er-Jahren erforschte er die Hysterie. Mit diesem Begriff wurden damals Verhaltensauffälligkeiten bezeichnet, die nur bei Frauen auftraten und auf Probleme des Uterus (griech. hystera) zurückgeführt wurden. Exzessives Lachen oder Weinen, wildes Um-sich-Schlagen, Ohnmachtsanfälle, Lähmungen, Krämpfe und zeitweilige Blind- und Taubheit galten als typische Symptome.
Nachdem er viele Fälle von Hysterie am Hôpital de la Sâlpetrière in Paris beobachtet hatte, glaubte Charcot, gewisse Gesetzmäßigkeiten ableiten zu können. Er behauptete, die Hysterie sei eine Erbkrankheit, deren Symptome durch Schock ausgelöst würden. 1882 schrieb er: »Bei einem hysterischen Anfall läuft alles immer nach demselben Muster ab. Es gilt für alle Länder, für alle Epochen, für alle Rassen, kurz gesagt: Es ist universal.«