Old Donegal musterte die beiden Ankerwachen mit grimmigem Blick.
„Hättet ihr Kerle eure Klüsen nicht besser aufreißen können, he? Wenn irgendein hübscher Weiberrock an unserer Ankertrosse herumgeturnt wäre, das hättet ihr bestimmt bemerkt. Wenn aber irgendwelche Spitzbuben unsere Ankertrosse durchsäbeln, da schaut ihr wohl geflissentlich weg, wie?“
Stenmark reagierte fuchtig.
„Jetzt halt aber die Luft an, Mister O’Flynn!“ fauchte er und trat einen Schritt näher an Old Donegal heran. Dann aber schien er sich blitzschnell auf eine andere Taktik zu besinnen. „Hör zu, Donegal“, fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. „Soll ich dir mal ganz im Vertrauen erzählen, was wirklich vorgefallen ist?“
„Ich bestehe darauf“, erwiderte der Alte würdevoll.
„Nun gut“, sagte Stenmark. „Dann sperr deine Lauscher auf. Es war nämlich ein Wassermann gewesen!“
„Ein Wa-Wassermann?“ Old Donegal blieb das Wort beinahe im Halse stekken.
„Jawohl, ein Wassermann“, sagte Stenmark unbeirrt. „Es war sogar ein Prachtexemplar, denn er hatte überall grüne Schuppen, und seine großen, runden Augen glühten wie zwei Laternen. Ich hörte plötzlich ein Geräusch und ging der Sache nach. Und was sah ich da? Der Wassermann hangelte sich gerade an unserer Ankertrosse nach oben! Ich riß sofort mein Messer heraus und kappte die Trosse, so daß der grüngeschuppte Kerl mit einem lauten Fluch ins Wasser zurückfiel. Den Rest der Geschichte kennst du ja.“
Der alte O’Flynn, der zwar ein rechter Haudegen, aber auch sehr abergläubisch war, hatte Stenmark nicht unterbrochen. Seine Augen hingen gebannt an den Lippen des blonden Schweden, bis ihn das Gelächter der anderen in die Wirklichkeit zurückholte.
„Du triefäugige Seegurke!“ schimpfte er da lauthals. „Du willst mir wohl einen Bären aufbinden, was? Laß dich bloß nicht mehr in meiner Nähe blicken, sonst ziehe ich dir mit meiner Krücke einen Scheitel durch deine blonden Locken!“
Doch Stenmark befand sich schon außer Reichweite. Er kannte schließlich die Reaktionsschnelligkeit Old Donegals. Und wo der rauhbeinige Alte hinlangte, da wuchs so rasch kein Gras mehr.
„Stenmark und Smoky trifft keine Schuld“, stellte der Seewolf fest. „Im Gegenteil, wenn sie nicht so rasch reagiert hätten, wäre die Sache schlimm ausgegangen. Wie jeder sehen kann, sind die Sichtverhältnisse miserabel. Von der Küste sind nur die Umrisse einigermaßen deutlich zu sehen. Wenn die Trosse – was anzusehen ist – von Schwimmern gekappt wurde, dann konnten diese tatsächlich unbemerkt an die ‚Isabella‘ herankommen.“
„Aber – was bezweckten diese Bilgenratten damit, was, wie?“ knurrte der Profos.
„Wir können im Moment nur Schlußfolgerungen anstellen“, antwortete Hasard. „Wahrscheinlich sollte die ‚Isabella‘ achteraus bei Kullen aufbrummen. Wenn Stenmark und Smoky geschlafen hätten, wäre das mit ziemlicher Sicherheit passiert. Demnach ist also jemand scharf auf unser Schiff. Wenn es an der Landzunge aufgelaufen wäre, hätte man uns bestimmt überfallen, denn bei einem solchen Vorkommnis herrschen auf den meisten Schiffen Wuhling und Zustand, zumindest bei harmlosen Handelsfahrern.“
Diese Vermutung leuchtete den Seewölfen ein. Sie waren schließlich nicht von gestern und hatten während ihrer Fahrten über alle Meere der Welt genug Erfahrungen gesammelt.
„Das bedeutet“, sagte Ferris Tukker, der Schiffszimmermann, „daß da drüben an der Küste Schnapphähne auf der Lauer liegen.“
„Das ist stark anzunehmen“, erwiderte Hasard. „Wir sollten überlegen, wie wir weiter vorgehen wollen.“
„Und was wird jetzt aus unserem Anker, Dad?“ fragte Jung-Philip, der zusammen mit seinem Zwillingsbruder auf der Back erschienen war.
„Nach dem werden wir morgen fischen“, sagte der Seewolf. „Bis dahin werden wir die Ankerwachen verstärken, damit wir keine weiteren Überraschungen erleben.“
Hasard bestimmte sechs Männer, die als Ankerwachen unter Waffen aufziehen sollten: Edwin Carberry, Batuti, Will Thorne, Jeff Bowie sowie Al Conroy und Luke Morgan.
Die Ankerwachen wurden mit Musketen, Pistolen und Tromblons bewaffnet und gingen an allen strategisch wichtigen Stellen des Schiffes auf Stationen.
Wenn jetzt noch mal jemand versuchen sollte, seine beutelüsternen Finger nach der „Isabella IX.“ auszustrecken, dann würde er gewaltig was draufkriegen, das war gewiß.
4.
„Ich habe etwas vorzuschlagen“, sagte Big Old Shane, ehemals Schmied auf der Feste Arwenack in Falmouth. Der kräftige Mann mit dem wilden grauen Bart und den mächtigen Pranken erinnerte, so wie er auf der Back stand, an ein Standbild des Meeresgottes Neptun.
„Laß ihn hören, Shane“, forderte ihn Hasard auf.
„Da wir uns darüber einig sind“, begann Big Old Shane, „daß dort drüben Schnapphähne lauern, könnten wir die Jolle aussetzen und die Küste bis hin nach Kullen ein bißchen in Augenschein nehmen. Morgen früh brauchen wir die Jolle ohnehin zum Ankerfischen.“
Der Seewolf wiegte nachdenklich den Kopf hin und her.
„Nun gut“, sagte er dann. „Es kann nicht schaden, wenn wir die Augen offenhalten und uns möglichst gut absichern. Wenn wir davon ausgehen, daß sich die Kerle dort aufhalten, wo die ‚Isabella‘ hätte auflaufen müssen, mag es schon sein, daß uns eine solche Erkundungsfahrt etwas schlauer werden läßt. Ich bitte mir jedoch aus, daß sich die Bootscrew auf keinen Kampf einläßt. Wir sind mit einem geheimen Auftrag der Königin unterwegs und müssen schon aus diesem Grund jeden Ärger vermeiden.“
Der Vorschlag Big Old Shanes fand auch bei den übrigen Seewölfen Zustimmung, und ebenso akzeptierte man Hasards Bedingungen.
Da der Seewolf wußte, daß sich alle Hände heben würden, wenn er nach Freiwilligen fragte, bestimmte er von sich aus einige Männer, die Big Old Shane auf der Erkundungsfahrt begleiten sollten. So gehörten denn Stenmark, Mac Pellew, Sam Roskill, Jack Finnegan sowie Paddy Rogers und Dan O’Flynn, der Sohn von Old Donegal, zu der kleinen Crew.
„Und wir, Dad?“ fragten die Zwillinge wie aus einem Munde.
„Sollen wir etwa wieder in die Koje steigen?“ fügte Hasard junior hinzu.
„Du hast es erraten“, erwiderte Vater Hasard. „Auf euch beide wartet morgen eine Menge Arbeit. Zunächst einmal muß Reinschiff gemacht werden, außerdem werden noch einige starke Männer gebraucht, die beim Ankerfischen helfen.“
Die beiden „Rübenschweinchen“ zogen einen Schmollmund, denn gerade jetzt, da es ihrer Meinung nach interessant wurde, sollten sie in die Koje zurück. Das war wieder typisch Dad. Aber hatte er nicht was von starken Männern gesagt, die man morgen brauchen würde? Nun ja, wenigstens schien er ihre Qualitäten richtig einzuschätzen. Und das versöhnte sie wieder.
„Aye, Sir!“ sagten sie und verzogen sich.
Inzwischen wurde die Jolle mit geübten Griffen abgefiert. Dann ging die kleine Crew, die gut bewaffnet war, an Bord. Um möglichst wenig Lärm zu verursachen, ließ Big Old Shane, der das Kommando übernommen hatte, den Mast und das Segel setzen. Der kalte Wind, der über die Wasserfläche strich, trieb die kleine Jolle lautlos voran – direkt auf die Küste zu.
Am Himmel zogen immer noch grauschwarze Wolkenfetzen entlang, die dem Mond nur ab und zu die Gelegenheit einräumten, die Umgebung in ein trübes, milchiges Licht zu tauchen.
Es mochte wohl eine halbe Stunde vergangen sein, als Dan O’Flynn mit seinen scharfen Augen etwas entdeckte, das der kleinen Bootscrew die Haare zu Berge stehen ließ.
Bis jetzt waren sie immer dicht unter der Küste geblieben,