Andererseits mochten die Häuser so solide gebaut sein, daß von den Außentemperaturen nur wenig ins Innere vordrang. Den Söhnen des Seewolfs gab dieser Gedanke eine Vorstellung davon, wie verteufelt schwer eine Flucht sein würde.
In diesen Minuten, in denen sie gefesselt und geknebelt und durch die Augenbinden zusätzlich hilflos waren, hatten sie nicht die geringste Chance, es mit einer blitzschnellen Befreiung zu versuchen.
Der Raum, in den sie gestoßen wurden, war fensterlos.
Die Kerle warfen sie zu Boden. Der Länge nach auf dem Bauch ausgestreckt, wurden sie von sandalenbewehrten Füßen auf diesen Boden gedrückt. Es war festgestampfter Lehm. Kühle Feuchtigkeit, jahrzehntealt, stieg ihnen daraus in die Nase.
Flinke Finger lösten Fesseln, Knebel und Augenbinden.
Die scharrenden Ledersandalen wichen zurück.
Als Philip und Hasard sich aufrappelten, gab es einen dumpfen Ton. Es folgte das knirschende Geräusch eines schweren Riegels, der vorgelegt wurde.
Dunkelheit umgab die beiden Gefangenen. Sie wollten beginnen, tastend den Raum zu erkunden.
Eine Klappe in der Tür wurde geöffnet. Trübes Licht sickerte herein, das aus dem Halbdunkel des Kellerkorridors stammte. Gleich darauf wurde das Licht abgedunkelt. Nur noch Radjifs Augen, wie von boshafter Glut erfüllt, waren zu sehen.
„Paßt gut auf euch auf“, sagte er mit hohntriefender Stimme. „Bewegt euch hin und wieder ein bißchen, damit ihr nicht zu schlaff werdet. Und versucht vor allem nicht, euch zu befreien. Ihr könntet euch dabei verletzen. Das wäre nicht gut. Ihr sollt nämlich unversehrt an den Mann gebracht werden – oder, besser gesagt, an die Frau!“ Er lachte leise und glucksend.
„Paß auf, daß wir dir nicht die Schlitzohren langziehen“, sagte Philip trocken.
Deutlich war zu hören, wie der mausgraue kleine Mann schluckte. Er schien zu überlegen, wie er reagieren sollte. Ließ er die Gefangenen verprügeln, wurden sie womöglich verletzt. Ließ er sie ungeschoren, würden sie allzu frech werden.
Radjif entschied sich für einen Kompromiß.
„Wenn ihr denkt, daß ich so etwas ungestraft lasse“, zischte er, „dann habt ihr euch getäuscht.“
Er ließ die Tür noch einmal öffnen und schickte drei Kerle in das finstere Verlies.
Hasard stieß seinen Bruder ärgerlich an, sagte aber nichts. Das war absolut überflüssig, sollte die Geste bedeuten. Man mußte den Beherrscher der Situation nicht unnötig herausfordern. Aber Philip grinste nur, was am Weiß seiner Augen zu erkennen war.
Im nächsten Augenblick verging es ihm.
Einer der Kerle trat feixend auf ihn zu, während die beiden anderen in Türnähe darauf lauerten, einzugreifen. Der Araber, der sich vor Philip aufbaute und so tat, als zögere er, war unglaublich schnell. Seine Rechte zuckte vor, und er erwischte das linke Ohr des jungen Killigrew.
Philip stöhnte schmerzerfüllt auf, er konnte es nicht verhindern – ebensowenig, wie er rechtzeitig hatte ausweichen können.
Radjif lachte in der Türöffnung.
„Da hast du es, Engländer! Male den Teufel nie an die Wand! Vor allem nicht in einer Lage, in der man ganz klein und häßlich sein sollte.“
Philip krümmte sich halb zur Seite. Er unterdrückte den Schmerz, tat aber, als könne er es kaum ertragen.
Ohne erkennbaren Bewegungsansatz feuerte er seine Rechte ab. Der Hieb mußte für den Ohrenzieher wie eine Explosion sein, die seinen Magen auseinanderriß.
Er brüllte vor Schmerz, während es für Philip Erleichterung gab. Der Araber klappte zusammen wie ein Mast, der im Sturm abknickt. Sein Schmerzensgebrüll wollte nicht abreißen.
Philip setzte mit einem zweiten Fausthieb nach, und er schaffte es, bevor die beiden anderen Kerle zur Stelle waren. Sein Gegner wankte zurück und dachte nicht mehr daran, zum Gegenangriff anzusetzen.
Hasard stand geduckt in Abwehrstellung.
Philip wich einen Schritt zurück, ebenfalls bereit, das Unmögliche zu versuchen.
Doch Erstaunliches geschah.
Die beiden Kerle packten ihren brüllenden Kumpan und zerrten ihn aus dem Verlies. Sein Schmerzensgeschrei ließ nach und ging in ein Stöhnen über, als die Tür erneut zugeschlagen wurde. Wieder knirschte der Riegel, und wieder erschien Radjifs Gesicht im Guckloch.
„Glaubt nur nicht, daß ihr irgendein Durcheinander ausnutzen könntet!“ zischte er. „Ihr werdet aus diesem Bau nicht entwischen, und niemand wird euch befreien. Bildet euch nur nichts ein.“ Es knallte wie ein Schuß, als Radjif die Klappe des Gucklochs zuschlug.
Schritte entfernten sich. Dann wieder ein dumpfes Türgeräusch. Stille kehrte ein.
„Bruder Leichtsinn“, knurrte Hasard. „Das hätte ins Auge gehen können. Ist dir das klar?“
„Überhaupt nicht“, entgegnete Philip und rieb sich das Ohr. „Du hast es doch gehört: Man braucht uns in unversehrtem Zustand.“
„Für was bloß?“
„Mann, bist du schwer von Begriff? Wir sollen an die Frau gebracht werden, nicht an den Mann!“
„Ja, und? Ein Wortspiel, weiter nichts.“
„Aber eins mit klarer Bedeutung. Fangen wir ganz von vorn an, Bruderherz: Unser Freund Radjif betrachtet uns als lebende Handelsware. Weil er uns nämlich verkaufen will. Richtig?“
„Von Menschenhandel habe ich gehört“, erwiderte Hasard pikiert. „Fang bloß nicht an, den Besserwisser zu spielen! Du kannst dir auch bloß irgend etwas zusammenreimen. Bewiesen ist es deshalb noch lange nicht.“
„Mag sein. Aber es ist logisch. Fahren wir fort: Handelsware Mensch. Wer kann sich so etwas leisten?“
„Einer, der sich seiner Sache völlig sicher ist. Schließlich muß es auch in einem Land wie diesem Recht und Ordnung geben. Hier kann auch nicht jeder ungestraft anstellen, was er will.“
„Himmelherrgott!“ stöhnte Philip. Er konnte nicht sehen, daß sein Bruder in der Dunkelheit grinste. „Langsam kommt’s mir vor, als ob du nicht begreifen willst. Ich meine die geldliche Seite. Wer hat genug Geld, daß er es sich leisten kann, einen Menschen wie ein Stück Vieh zu kaufen?“
„Dumme Frage“, entgegnete Hasard. „Die reichen Leute natürlich. Das dürfte im Jemen kaum anders sein als sonstwo auf der Welt.“
„Genau, genau. Nur gibt es gewisse Unterschiede zwischen den Ländern der Welt. Die reichen Leute in Arabien haben etwas, um das sie von den reichen Leuten in Europa beneidet werden.“
„Darauf werde ich nie kommen“, sagte Hasard und konnte ein leises Glucksen nicht unterdrücken.
„Du willst mich auf den Arm nehmen!“ schrie Philip. „Du wolltest mich die ganze Zeit auf den Arm nehmen!“
Hasard lachte – hörbar jetzt.
„Am besten veranstaltest du noch mehr Lärm, dann erklärt Radjif uns für verrückt und jagt uns davon – weil er keiner Haremsdame verrückte Zwillinge zumuten kann.“
Philip beruhigte sich.
„Er wird sie nicht den Damen, sondern erst einmal dem Hausherrn aufschwatzen, der entscheidet schließlich, was seinen Ladys zu gefallen hat.“
„Da hast du auch wieder recht“, murmelte Hasard. „Hast du deine logischen Gedanken eigentlich mal bis zu Ende geführt? Bis zum bitteren Ende, meine ich?“
„Ich fürchte, jetzt kann ich dir nicht ganz folgen.“
„Tu