El Tiburon stieg an Bord, setzte das Segel und ging auf Kurs. Das Boot glitt aus der Bucht und nahm Fahrt auf. Es war klein, aber relativ schnell und wendig. Die See war ruhig und wurde nur von einer flachen Dünung gekräuselt, der Wind wehte aus Nordosten.
El Tiburon wußte, daß die Überfahrt zur nahen Küste von Hispaniola nicht lange dauern würde. Mit einem Schlechterwerden von Wind und Wetter war in den nächsten Stunden nicht zu rechnen, kein Anzeichen deutete darauf hin.
Unablässig hielt El Tiburon nach allen Seiten Ausschau. Er hatte in der Buglast des Bootes einen Kieker gefunden und benutzte ihn, um die Kimm abzusuchen. Vorläufig zeigte sich kein anderes Boot und kein Schiff. Er schien allein zu sein auf der Welt. Tortuga blieb achteraus liegen und schrumpfte bald zu einer grauschwarzen Silhouette zusammen, die sich nur unbedeutend über die Wasserlinie hinausschob.
Noch einmal überlegte El Tiburon, ob es nicht besser gewesen wäre, mit Arne, Diego, Willem und Carlos zu sprechen. Aber die Besprechung hätte ihn wertvolle Zeit gekostet. Sie würden ohnehin noch erfahren, wer die Auftraggeberin von Sarraux und Nazario war und wo sie sie zu suchen hatten. Irgendwann würden sie die Kerle fangen und zum Sprechen bringen. Dann würde sicher auch Arne von Manteuffel nach Hispaniola aufbrechen.
Er aber, El Tiburon, wollte der erste sein, der die Black Queen stellte und mit ihr abrechnete. Wie konnte er sie am besten überrumpeln? Er mußte es mit einer List versuchen. Wenn es ihm gelang, ihr Vertrauen zu erschleichen, war der Schlag, den er ihr anschließend versetzte, empfindlicher.
El Tiburon ließ sich auf der Heckducht des Fischerbootes nieder und bediente die Ruderpinne. Sein Blick war geradeaus gerichtet. Er dachte nach, und ein Plan nahm in seinem Geist Gestalt an.
Die Verhandlung gegen Gilbert Sarraux und Joao Nazario fand in der „Schildkröte“ statt. Schon viel eher, als sich Joaquin Solimonte ausrechnete, waren die beiden feindlichen Agenten an der Totenrutsche gefaßt worden. Wären El Tiburon diese Zusammenhänge bekannt gewesen, hätte er seine Pläne vielleicht doch geändert und mit Willem Tomdijk, Arne von Manteuffel und Carlos Rivero gesprochen, bevor er etwas unternahm. Doch die Dinge nahmen ihren Lauf und ließen sich weder aufhalten noch beeinflussen.
Willem Tomdijk war zum Richter, Arne von Manteuffel zum ersten Beisitzer gewählt worden. Alles, was Beine hatte auf Tortuga, war zu dem Gerichtstermin erschienen. Ein zweiter und dritter Beisitzer waren rasch ausgesucht: Diego und Carlos Rivero nahmen neben dem dicken Willem und dem Vetter des Seewolfs Platz.
Sarraux und Nazario mußten in die Mitte der Versammlung treten. Pedro und der grauhaarige Engländer aus Northumbria mußten Manon zurückhalten, als sie sich auf die Angeklagten stürzen und auf sie einschlagen wollte. Manch einer hätte gern Selbstjustiz geübt, die Stimmung war drohend.
Der Bretone und der Portugiese schienen in sich zusammenzukriechen. Sie hatten jetzt Angst. Sarraux’ Blick war flackernd, Nazario kaute ununterbrochen auf der Unterlippe herum.
Willem Tomdijk eröffnete die Verhandlung. Eine Veränderung schien sich an ihm vollzogen zu haben. Er war nicht mehr der gutmütige Dicke, den er sonst gern zur Schau stellte. Der Blick seiner schmutziggrauen Augen war kalt, seine Miene starr und etwas verkniffen.
Völlig reglos hockte er da und sagte: „Noch einmal: Die Anklage lautet auf Doppelmord. Ihr beiden, Sarraux und Nazario, habt das Mädchen Esther und den Spanier Joaquin Solimonte, genannt El Tiburon, brutal umgebracht. Gesteht endlich! Gebt es zu! Ihr habt keine Chance, es abzustreiten!“
„Wer behauptet denn, daß wir mit diesem El Tiburon überhaupt etwas zu tun hatten?“ fragte Nazario.
„Ich!“ schrie Pedro. „Ich habe ihn überall gesucht und nicht gefunden! Dann haben wir euch Hundesöhne an der Totenrutsche erwischt! Ihr habt ihn runtersausen lassen, das ist völlig klar!“
„Es wäre besser gewesen, die beiden gleich hinterherzustoßen!“ rief Manon.
Willem Tomdijk schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Es gab einen scharfen, knallenden Laut, und der Tisch begann bedrohlich zu wackeln.
„Ruhe!“ sagte er laut. „Reden darf nur, wer etwas gefragt wird. Zuwiderhandlungen werden geahndet.“
Stille trat ein. Die meisten Männer und auch die Mädchen aus Paris fragten sich, warum mit den Spionen soviel Aufhebens gemacht wurde. Das beste wäre doch wohl gewesen, sie nach draußen zu schleppen und am nächsten Baum aufzuknüpfen.
Aber Willem, Arne, Carlos, O’Brien und sogar Diego waren anderer Meinung. Fair sollte es zugehen, eine ordentliche Gerichtsverhandlung hatte auch der letzte Lumpenhund verdient. Willem fixierte den Portugiesen.
„Was hast du also zu deiner Verteidigung zu sagen?“ fragte er.
„Daß wir El Tiburon nicht getötet haben“, erwiderte Nazario. „Zeigt uns die Leiche. Ohne Leiche kein Mord. Überhaupt – ich glaube nicht, daß er tot ist.“ In Wirklichkeit war er davon überzeugt, aber Sarraux und er hatten El Tiburon nicht mehr gesehen, nachdem sie ihn von der Totenrutsche gestoßen hatten. Es war anzunehmen, daß die Haie den Mann zerrissen und gefressen hatten.
„El Tiburon ist überall gesucht worden“, erklärte Diego. „Ohne Erfolg. Er ist verschwunden. Das viele Blut im Wasser unterhalb der Totenrutsche kann nur eins bedeuten: Die Haie haben ihn getötet. Diesmal war er nicht schnell genug.“
Wieder drohte Unruhe aufzukeimen, aber Willem Tomdijk behauptete sich in seiner Rolle als Richter. Er verstand es, sich den nötigen Respekt zu verschaffen. Das begriffen auch die Angeklagten – und Sarraux begann, den dicken Mann zu fürchten. Er hatte gehofft, sich herausreden zu können, begriff aber, daß dieser Tomdijk in keiner Weise zu beeinflussen war.
„Beschränken wir uns vorerst auf den Mord an Esther“, sagte Willem. „Joao Nazario, du hast mit ihr eine Liebesnacht verbracht, dafür gibt es mehr als einen Zeugen. Im Gespräch mit dir hat sie begriffen, daß du ein Spion bist, hat dir einen Schlaftrunk verabreicht und wollte uns benachrichtigen. Aber irgend etwas hat nicht geklappt. Du hast sie überrascht und getötet.“
„Nein.“ Nazario vermied es, die Umstehenden anzuschauen. Schon gar nicht mochte er zu dem Platz blicken, an dem Esther bis vor kurzem noch aufgebahrt gewesen war. Inzwischen war sie von ihren Freundinnen bestattet worden, doch vier Kerzen brannten noch in der Nische der Kneipengrotte, in der alle ihr die letzte Ehre erwiesen hatten. „Nein“, wiederholte er. „Ich war es nicht. Ich wollte sie festhalten, aber sie ist gestolpert und …“
„Und hat sich den Kopf gestoßen. An einem Stein“, fuhr Sarraux fort.
„Und dabei hat sie sich so unglücklich gedreht, daß sie auf ein verkehrt herum in den Boden gerammtes Messer gefallen ist“, sagte Diego höhnisch. „Nur so kann sie sich die schwere Wunde zugezogen haben, oder?“
Die Last der Beweise war erdrückend. Willem, Arne, Diego und Carlos sprachen auf die Gefangenen ein, mal beschwörend, mal drohend und zornig. Schließlich war es Gilbert Sarraux, der als erster einsah, daß alles Leugnen keinen Sinn mehr hatte. Seine Miene nahm, gut gespielt, einen weinerlichen Ausdruck an. Dabei sah er mitleidheischend zu Willem.
„Was ist, wenn wir gestehen und – alles erzählen?“ fragte er. „Kriegen wir dann – mildernde Umstände?“
„Nein“, erwiderte Willem kalt. „Das Gericht läßt nicht mit sich feilschen. Mord bleibt Mord.“
„Hier wird nur beschlossen, auf welche Art ihr sterben werdet“, sagte Arne von Manteuffel.
„Manon hat recht“, sagte Diego. „Die Totenrutsche wäre genau das richtige für die Hunde.“
Joao Nazarios Gesicht wurde kalkweiß. „Nein! Das könnt ihr nicht mit uns tun! Das ist – ungesetzlich!“
„Wir bestimmen, welches Gesetz auf Tortuga gilt“, sagte Carlos Rivero. „Ich denke, im Namen aller Anwesenden zu sprechen und die