„Ich habe nicht die geringste Ahnung“, entgegnete El Tiburon.
„Wie viele Verluste hatte der Seewolf im Gefecht mit dem Verband der Black Queen?“ wollte Sarraux wissen. „Arne von Manteuffel und seine Bastarde von Decksleuten haben es dir bestimmt verraten.“
„Nein, ich weiß auch davon nichts.“
„Was soll mit den Siedlern von El Triunfo geschehen?“ fragte Sarraux.
„Frag die Siedler. Sie wissen es am besten. Ich kümmere mich nur um meine eigenen Angelegenheiten.“
„Ist etwas über die weiteren Pläne des Seewolfs durchgesickert? Was hat er jetzt vor?“ fragte Sarraux.
El Tiburon schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung. Ich kenne diesen Seewolf, von dem du dauernd sprichst, ja gar nicht.“
Nazario verlor die Geduld. Er stürzte sich auf El Tiburon, schlug auf ihn ein, bedrohte ihn mit dem Messer und wollte ihn verletzen. Er wurde von Sarraux gebremst, der seinerseits durch List zum Erfolg zu gelangen versuchte. Aber es nutzte alles nichts, sie konnten El Tiburon keine Information entlocken. Er blieb stumm wie ein Fisch.
Aber Nazario und Sarraux hatten in der „Schildkröte“ von der Totenrutsche gehört. Es war Nazarios Vorschlag, den Gefangenen dorthin zu schleppen.
„Keine Angst, dort sucht uns keiner“, sagte er zu seinem Kumpan. „Wenn wir diesen Hund erst mal auf die Rutsche setzen, wird er uns darum anbetteln, alles ausspucken zu dürfen, was er weiß.“
Die Totenrutsche war eine westlich des Hafens von Tortuga gelegene Steilklippe, in der sich eine glattgeschliffene, körperbreite Rille befand, die fast senkrecht zum Meer abfiel. Tote wurden hier ihrem Element übergeben – wer auf Tortuga starb, trat auf ihr seine letzte Reise an und sauste ins Meer. Das Untertauchen der Körper war für die Haie das Signal, daß es leichte Beute gab. Daran hatten sie sich seit Jahren gewöhnt.
Unbehelligt und ungesehen erreichten Sarraux und Nazario mit ihrem Gefangenen die Rille. Sie lösten seine Fuß fesseln, hielten ihn aber an Armen und Beinen fest und legten ihn in die Rille, aus der es kein Entkommen mehr gab. Wenn sie ihn losließen, half auch kein Halten und Festkrallen mehr.
„Sprich“, sagte Sarraux eindringlich. „Es ist deine letzte Chance, El Tiburon, sonst stirbst du.“
Den Tod vor Augen, entwickelte El Tiburon eine verwegene Art von Mut. Er lachte und erwiderte: „Tut, was ihr wollt. Ich bin kein Verräter. Ich zeige euch, wie ein Mann stirbt, ihr Ratten!“
Der Morgen graute bereits über Tortuga, und jetzt verloren die beiden Kerle die Geduld. Bei Tageslicht mußten sie sich wieder verstecken, sonst wurden sie unweigerlich entdeckt.
„So kriegen wir das nicht hin“, sagte Nazario. „Das hat alles keinen Zweck. Der Kerl ist stur wie ein Ochse, Gilbert. Suchen wir uns einen anderen Informanten. Einen von den Hunden, die nach uns suchen, erwischen wir schon noch.“
„Gut, einverstanden“, sagte der Bretone und grinste dem Spanier ins Gesicht. „Das hast du von deinem Starrsinn, du Ochse. Wir lassen dich zu den Haien sausen. Es ist uns egal. Männer wie du sind überflüssig.“
„Euch sind zu viele Fehler unterlaufen“, sagte El Tiburon. „Sie werden euch erwischen, verlaßt euch drauf.“
„Zeig uns doch mal, ob du deinen Beinamen wirklich verdienst“, zischte Nazario – und gab dem Bretonen das Zeichen.
Gleichzeitig ließen sie El Tiburon los. Er konnte sich nicht festhalten. Nur eins konnte er noch tun: Im Fallen entriß, er Nazario das Messer, das dieser in der Rechten hielt. Nazario fluchte und wollte es sich zurückholen, doch es war zu spät. El Tiburon raste die Totenrutsche hinunter und war nicht mehr aufzuhalten.
Er streckte die Beine weit von sich und hielt das Messer vor der Brust fest. So schoß er in die Tiefe und fühlte sich wieder an Chagall erinnert, der ihn den Haien zum Fraß vorgeworfen hatte.
Allein der Gedanke ließ seinen Haß und Zorn erneut aufflammen. War er eben noch etwas benommen gewesen, so wurde er jetzt hellwach. Er stieß ins Wasser, begann sofort zu schwimmen und versuchte, das Ufer zu erreichen.
Aber die Haie lagen bereits auf der Lauer – wie damals auf Hispaniola. El Tiburon hatte keine Chance, das rettende Ufer zu erreichen. Aber er war zum Kampf bereit, wild war sein Haß, und sein Rachedurst trieb ihn an. Wer war er denn? Eine Marionette, die sich vernichten ließ?
Nein, es genügte nicht, ihn ins Wasser zu werfen. Sein aufbrausendes Temperament verlieh ihm die Kraft, die er brauchte, vergessen waren die Schmerzen im Hinterkopf. Er würde sich an Sarraux und Nazario rächen – und auch das teuflische schwarze Weib würde er zur Strecke bringen! Er würde nicht eher ruhen, bis er sie gestellt hatte!
Ein Hai war heran. El Tiburon tauchte, entging mit knapper Not den zuschnappenden Zähnen, drehte sich und gelangte auf diese Weise unter den Bauch des Mörders. Ein erprobter und wirkungsvoller Trick – der Hai war für wenige Atemzüge irritiert und verlor die Orientierung. Haie konnten schlecht sehen, sie richteten sich, wie El Tiburon annahm, mehr nach ihrer Witterung.
Zweimal stach El Tiburon mit seinem erbeuteten Messer zu, dann brachte er sich mit drei Schwimmzügen aus der Reichweite des getroffenen Tieres, das wild mit der Schwanzflosse um sich schlug. Aber die Gefahr war nicht gebannt. Zwei, drei Schatten huschten heran, angelockt von dem Blut des Artgenossen.
Vor dem einen Hai konnte El Tiburon gerade noch sein rechtes Bein in Sicherheit bringen. Um ein Haar wäre es in dem heranschnellenden, aufklaffenden Rachen verschwunden. El Tiburon schauderte es allein bei dem Gedanken, aber er durfte nicht die Nerven verlieren.
Wieder drehte er sich mehrfach im Wasser, aber der Hai folgte ihm. Aufs Geratewohl stach El Tiburon zu, und er hatte Glück. Er traf das Maul des Hais und glaubte auch, sein eines Auge verletzt zu haben. Bevor ihn die Bestie erneut angreifen konnte, schwamm er von ihr weg, tauchte kurz auf, schnappte Luft und arbeitete sich näher ans Ufer heran.
Der dritte Hai! El Tiburon sah seine Rückenflosse nahen und tauchte wieder unter. Im milchigen Wasser, das von den ersten grauen Schleiern des Morgens erhellt wurde, sah er den Gegner deutlich genug vor sich. Diesmal schaffst du es nicht, sagte er sich, und unwillkürlich schloß er die Augen.
Dann aber riß er sie wieder auf, ließ den Hai heranschießen und wich ihm erst in letzter Sekunde aus. Das Wasser bremste jede Bewegung, aber El Tiburon war ein guter Taucher und kannte alle Tücken und Hindernisse des nassen Elements. Er wand sich wie ein Aal und entging um Haaresbreite dem ersten Biß.
Der Hai drehte sich, aber El Tiburon war neben ihm und nutzte die Gelegenheit Zweimal traf das Messer, El Tiburon stieß den Hai mit den Füßen von sich weg, riskierte noch einen Biß, hatte dann aber genug Freiheit. Er schwamm tauchend zum Ufer und konnte sich retten, weil die anderen Haie jetzt über ihre Artgenossen herfielen.
El Tiburon langte unter einem Felsenüberhang am unwegsamen Ufer an. Hier konnten die Mörder ihn nicht mehr erreichen – weder die im Wasser noch die mit zwei Beinen, die oben an der Totenrutsche nach ihm Ausschau hielten. El Tiburon hatte Zeit, zu verschnaufen. Er hütete sich, jetzt schon nach oben zu klettern. Er wußte, daß Sarraux und Nazario dort lauerten.
So war es auch: Der Portugiese und der Bretone spähten immer noch ins Wasser. Aber sie hatten einen entscheidenden Denkfehler begangen. Sie nahmen an, El Tiburon wäre allein gewesen, als er den Hohlweg betreten hatte.
Pedro, der Kleine, war inzwischen nicht untätig gewesen. Er hatte vergeblich auf seinen Partner gewartet und schließlich die anderen Männer alarmiert, die die Insel nach den Gesuchten abforschten.
Einer der Siedler von El Triunfo war sicher, auf dem Felsen der Totenrutsche eine Bewegung bemerkt zu haben. Der Rest ergab sich: Ein Trupp von zornigen Männern unter der Führung von Carlos Rivero tauchte in diesem Moment auf der Steilklippe auf – hinter dem Rücken der beiden Spione.
Sarraux