Endlich erhob die Glocke ihre dünne Stimme. Zitternd und zaghaft klang sie gegen das Donnern und Brüllen der Naturgewalten. Neue Böen stießen in die Gassen von Pensacola, in immer rascherer Folge tobten die Vorboten des Sturms, als kundschafteten sie die Lebensadern dieser Stadt aus, die es zu vernichten galt.
Der Stützpunkt war jetzt wie ausgestorben. Niemand hielt sich mehr im Freien auf. Ein wenig Erleichterung befiel den Padre. Hatte die Glocke sie vielleicht doch noch rechtzeitig gewarnt?
Und niemand in Pensacola mußte das Grauenvolle ansehen, wie es für ihn in der Höhe des Kirchturms offenbar wurde.
Die harte, erbarmungslose Riesenfaust des Sturms fegte auf die Stadtmauern zu. Wolken jagten und tanzten, zerrissen und formten sich neu. Das Licht begann ein wildes Wechselspiel von staubigem Grau bis zur finsteren Schwärze des Grauens. Die Gewalt der Böen packte auch den Geistlichen auf dem Turm. Doch er krampfte seine Hände nur noch fester um das Seil und hielt nicht inne, seinen Glockenklang dem Inferno entgegenzuschicken.
Sekunden später brach es über Pensacola herein. Baumstämme krachten auf die Stadtmauer. Dachschindeln des Wehrganges wurden hochgewirbelt. Das Donnern und Brausen der Naturgewalten erstickte jeden anderen Laut. Alle Armeen dieser Welt, so schien es dem Padre, hätten gemeinsam keinen mächtigeren Kanonendonner anstimmen können.
Sein Entsetzen war verbissener Entschlossenheit gewichen. Die Glocke durfte nicht verstummen. Sie mußte den Menschen Zutrauen geben und den Gedanken in ihnen wachhalten, daß es eine höhere Gerechtigkeit gab. Nein, er würde nicht innehalten, an dem Glockenstrang zu ziehen. Keine noch so teuflische Macht konnte ihn davon abbringen.
Krachende Schläge mischten sich in den Donnerhall, als ganze Dächer wie Teile von Holzspielzeug davongetragen wurden und zerberstend andere Gebäude zum Einsturz brachten. Und wieder war es wie eine Schneise, die gegraben wurde, eine Schneise, die sich fast über die ganze Breite von Pensacola erstreckte. Die aus Stein gemauerten Gebäude jener Art, wie sie in Europa jahrhundertelang Wind und Wetter zu trotzen vermochten, erwiesen sich als nutzlose Bollwerke gegen eine Gewalt, die stärker war als alles, was Menschenhand jemals errichtet hatte.
Es gab kein Dach, das dem Sturm standhielt. Mauern blieben stehen, doch sie spendeten den Menschen keinen Schutz mehr. Schreie gellten durch das Wüten des Sturms.
Mit brennenden Augen sah der Padre, wie die Menschen von herabwirbelnden Trümmern und Dachbalken erschlagen wurden. Menschliche Körper wurden wie Spielzeugpuppen durch die Luft geschleudert und auf Mauerresten oder den zersplitterten Ruinen von Holzhäusern zerschmettert.
Im Hafen von Pensacola kochte und brodelte das Wasser. Boote wurden losgerissen und wie Nußschalen zerbrochen. Die größeren Schiffe zerrten an ihren Festmachern, und es war nur noch eine Frage der Zeit, daß auch sie den entfesselten Gewalten zum Opfer fielen.
Die Schreie der Sterbenden und Verletzten mehrten sich, übertönten den wimmernden Glockenklang und stachen schmerzhaft in das Gehör des Geistlichen. Das Donnern des Sturms ließ nicht nach und wollte kein Ende nehmen. Erst dann, so schien es, würden die finsteren Mächte nachgeben, wenn Pensacola dem Erdboden gleich war. Eine Hoffnung hatten nur jene, die in den wenigen Kellerräumen des Stützpunkts betend ausharrten.
Der Padre spürte nicht, wie ihn die tobenden Böen am Glockenseil hin und her pendeln ließen. Er bemerkte nicht, wie ein Wanken auch den Kirchturm erfaßte.
Plötzlich, unter einem berstenden Schlag, wurden das Dach und die Turmspitze buchstäblich abgerissen. Nur noch ein Atemzug blieb dem Geistlichen, um das Grauenvolle zu erfassen. Dann lösten sich die ersten Steinbrocken aus dem Mauerwerk des Turms. Im nächsten Moment wurde der Glockenstuhl aus seiner Verankerung gerissen.
Bei aller Kraft, die er hatte, vermochte der Sturm doch nicht die drei mächtigen Bronzeglocken davonzutragen. Unter dem Tonnengewicht der Bronzeleiber stürzte der Padre ab und wurde von ihnen auf dem Erdboden neben seiner Kirche erschlagen.
2.
Bis in die Tiefe des Kerkers war es zu hören – das Toben und Brüllen des Sturms, die gellenden Schreie der Sterbenden und Verletzten, das Krachen der einstürzenden Gebäude. Ja, selbst durch das verschachtelte System der Gänge und Treppenschächte drang der Luftzug bis tief unten zu den Zellen vor und ließ die Flammen der Fackeln blaken, die in eisernen Ringen an den Wänden befestigt waren.
„Ein Geschenk des Himmels“, flüsterte Mardengo seinen Männern zu. „Etwas Besseres als diesen Hurrikan können wir uns nicht wünschen.“
Sie starrten ihn entgeistert an. Angsterfüllt kauerten sie im Halbdunkel der Zelle beieinander, instinktiv waren sie zusammengerückt. Es gab ihnen das Gefühl, sich gegenseitig Schutz zu spenden.
Und ihr Anführer redete so unverfroren daher! Sie konnten es nicht fassen. Doch das Grinsen, das die blutrote Narbe vom linken Ohr bis zum Kinn dehnte, bestätigte seine Worte. Er meinte es wirklich so, wie er es sagte. Seine schwarzen Augen glitzerten tückisch, während er sich mit einer heftigen Handbewegung durch das dunkle Kraushaar fuhr.
„Wir können froh sein“, entgegnete einer der Männer gepreßt, „wenn wir nicht verschüttet und lebendig begraben werden.“
Mardengo verzog verächtlich das Gesicht.
„Habt ihr die Hosen voll, ihr Feiglinge? Ihr tut so, als hättet ihr noch nie einen Hurrikan erlebt.“
„Mehr als genug“, entgegnete der andere. „Und wir haben Kerle sterben sehen, die Tod und Teufel nicht fürchteten.“
„Aber da gab es auch keinen sicheren Keller, in den ihr euch verkriechen konntet. Also reißt euch gefälligst zusammen und …“ Er verstummte. Schritte und gedämpfte Stimmen näherten sich. Mardengo senkte seine Stimme abermals zum Flüsterton, als er weitersprach. „Haltet jetzt das Maul. Laßt mich die Sache erledigen. Vielleicht ist das schon unsere Chance.“ Er deutete zum Vorraum, der sich vor den Gittertüren der Zellen entlangzog und von Fackeln erhellt war.
Langsam richtete sich der Anführer der Piraten auf und trat an das schmiedeeiserne Gitter.
Noch immer waren das Toben der Naturgewalten und die markerschütternden Schreie zu hören. Der Hurrikan würde noch geraume Zeit andauern, ehe er abflaute und über dem Feld seiner Verwüstungen Stille einkehren ließ.
Ein Zischlaut ertönte aus der Nachbarzelle zur Linken. Okachobee, Mardengos Mutter, war dort mit dem Rest der Horde eingesperrt.
Die Schritte näherten sich rasch und waren bereits im letzten Treppengang vor den Kerkerzellen.
„Was ist?“ rief Mardengo halblaut.
„Wirst du es versuchen?“ erwiderte Oka Mama. Alle nannten die Mutter des Piratenführers so, da sie ihren richtigen Namen kaum aussprechen konnten.
„Und ob“, antwortete Mardengo voller Vorfreude. „Wenn es jetzt nicht klappt, klappt es nie.“ Er grinste in die Richtung, in der er seine Mutter wußte, obwohl er sie nicht sehen konnte.
„Dann ist es gut“, sagte Oka Mama leise, „vielleicht kann ich dir ein bißchen helfen.“
Mardengo schwieg, denn die Schritte erreichten den Vorraum.
„… sind wir nur noch hier unten sicher“, war eine Männerstimme in spanischer Sprache zu vernehmen.
„Auf die Gesellschaft dieser verdammten Galgenstricke würde ich gern verzichten“, sagte eine zweite Stimme. „Aber es ist wohl das kleinere Übel, das wir in Kauf nehmen müssen.“
Mardengo war versucht, eine Verwünschung hinauszubrüllen. Aber er bezwang sich. Eine vorzeitige Auseinandersetzung mußte er vermeiden.
Ihre