Dieser souveräne, selbstbewusste Umgang mit den Möglichkeiten des verstandesmäßigen Denkens entfaltete sich in der etwa 500 v. Chr. einsetzenden griechischen Klassik in vielfältigen Facetten: Da agierten auf der einen Seite die wandernden Sophisten, die ihr Wissen und ihr ausgefeiltes rhetorisches und argumentatives Können zu Geld zu machen wussten. Ihnen gegenüber standen wahrheitssuchende Denker wie Sokrates, Platon und Aristoteles, die zu den Vätern der abendländischen Philosophie wurden. Selbst das einfache Volk in Athen diskutierte öffentlich über Politik und trieb – ein unerhörtes Novum – die Erprobung einer echten Volksherrschaft (Demokratie) voran. Gleichzeitig kam es zu einer Blüte der Wissenschaften, die das Fundament der abendländischen Bildung legte, und nicht zuletzt zu großartigen Werken der Dichtkunst, Architektur und bildenden Künste. Die durch Jahrtausende gepflegte Verehrung der Götter endete zwar noch nicht, doch machte sich auch im Volk mehr und mehr die Kraft des eigenen Denkens geltend. Diese umfassende Kulturströmung wirkte durch Alexander den Großen ostwärts bis weit nach Asien hinein und westwärts durch das Römerreich, zu dem Griechenland seit 146 v. Chr. politisch gehörte, in das gesamte Abendland.
Das Rätsel der Sphinx
Es wäre ein großes Missverständnis, wollte man aus den Errungenschaften der griechischen Kultur den Schluss ziehen, in der vorgriechischen Zeit habe es kein wirkliches Denken gegeben. Es gab es durchaus und sogar in reichem Maße. Jedoch hatte es einen gänzlich anderen Charakter als dasjenige Denken, das wir seit der griechisch-römischen Kulturepoche gewohnt sind. Und das hatte seinen guten Grund: Solange die Menschen noch über ein gewisses Maß an hellseherischen Fähigkeiten verfügten, beschränkte sich ihre Wahrnehmung der Welt nicht auf das rein Physisch-Materielle, wie es später der Regelfall wurde, sondern hinter dem Sinnlich-Äußeren nahmen sie (wenn auch in abnehmender Deutlichkeit) noch übersinnliche Kräfte und Wesenheiten der geistigen Welt wahr. Sie erlebten also in der Natur zwei Wirklichkeiten ineinandergewoben. Davon künden die kulturellen Zeugnisse aller alten Kulturen. Solche Erfahrungen aber konnte man nicht anders zum Ausdruck bringen als in Bildern (Imaginationen), deren Elemente zwar der Sinneswelt entnommen waren, sich aber auf eine übersinnliche Realität bezogen und insofern nicht im materiellen Sinne «wörtlich» zu nehmen waren. Ein solcherart bildhaftes, imaginatives Denken und Sprechen wird heute – oft herablassend oder sogar abwertend – als «mythisch» bezeichnet.
Mit dem zunehmenden Verblassen der übersinnlichen Wahrnehmung und dem Heraufkommen der nur noch äußerlich mit Götterverehrung verbundenen «Verstandesseelen-Kultur», wie Rudolf Steiner sie nennt, verlor das mythische Denken seine Berechtigung und musste sich grundlegend verändern. Das erwies sich, wie nicht anders zu erwarten, als äußerst schwierig. Und doch war der Wandel unabweisbar notwendig, um dem eigenständigen Denken zum Durchbruch zu verhelfen, mit dem der Mensch in Freiheit sich selbst bestimmen kann.
Den frühen Griechen war die Schwierigkeit des Übergangs bewusst. Sie brachten sie, wie es dem alten imaginativen Bewusstsein entsprach, in ein mythisches Bild, das Bild vom «Rätsel der Sphinx». Die schon aus der ägyptischen Kultur bekannte Gestalt der Sphinx wurde in der bildenden Kunst als ein verderbenbringendes Ungeheuer dargestellt, das auf einem geflügelten Löwenkörper mit Schlangenschwanz den Kopf einer Frau trug. Dieses Untier, so erzählt die antike Ödipus-Sage, versperrte den einzigen Zugangsweg zu der Stadt Theben und stellte jedem, der an ihr vorbeiwollte, ein Rätsel. Konnte er es nicht lösen, wurde er erwürgt und gefressen. Tausende fielen der Sphinx zum Opfer, bis endlich Ödipus des Weges kam und das Rätsel löste, woraufhin das Ungeheuer seine Macht verlor und sich selbst in den Abgrund stürzte. Theben war befreit. Wie aber lautete das Rätsel?
Was ist das?
Morgens geht es auf vier Beinen, mittags auf zwei und abends auf drei.
Und es ist am schwächsten, wenn es die meisten Beine hat.
Auf den ersten Blick erscheint der Spruch simpel: Jeder kann sofort erkennen, dass es sich um ein Lebewesen mit Beinen handelt. Verglichen aber mit der Alltagserfahrung ergibt sich kein stimmiges Gesamtbild. Verwirrende Widersprüche und Ungereimtheiten fallen auf: Lebewesen, die im Laufe ihres Lebens verschieden viele Beine haben, gibt es nirgends. Ferner ist der korrekten Abfolge von Morgen, Mittag und Abend die falsche Zahlenfolge 4 – 2 – 3 zugeordnet. Und wie soll es angehen, dass die wenigste Kraft hat, wer die meisten Beine hat?
Heutzutage wundern sich schon elfjährige Kinder darüber, dass die Thebaner ein «so einfaches Rätsel» nicht lösen konnten. Es sei doch ganz klar, sagen sie, dass damit der Mensch gemeint sei, der als Baby auf allen vieren krabbelt, als Erwachsener auf zwei Beinen geht und am Lebensabend den Stock als drittes Bein zu Hilfe nimmt, und natürlich sei er als Baby am schwächsten. Sie ahnen nicht, was es vor drei Jahrtausenden für eine Überwindung kostete, von der anschaubaren Wirklichkeit eines Säuglings, eines Erwachsenen und eines Greisen völlig abzusehen und die drei Erfahrungen gedanklich auf ein einziges Merkmal zu reduzieren, nämlich auf die Anzahl der Beine. Aus dem Umgang mit lebensvollen Bildern aus der Sinneswirklichkeit wurde ein bildloses Operieren mit nackten Begriffen. Die Philosophie nennt diesen Vorgang Abstraktion (von lateinisch abstrahere = wegziehen, entfernen, trennen).
Das Rätsel der Sphinx ist also als ein Signum zu verstehen für die große Aufgabe, die der Menschheit im anbrechenden Zeitalter der Verstandeskräfte gestellt war. Um ihr gerecht zu werden, musste der Schritt vom imaginativen zum abstrakten Denken vollzogen werden. Das war die Forderung, die die Sphinx als Wächter an der Schwelle zu der neuen Zeit mit Macht erhob, und nur dem, der sich wenigstens anfänglich darin geübt hatte, gab sie den Weg in die Zukunft frei. Alle anderen waren dem Untergang geweiht.
Die Ausbildung des neuzeitlichen Denkens
In Griechenland entwickelt und von den Römern weitergeführt, verbreitete sich das bildlos-abstrakte Denken über die Welt. Gefordert waren jetzt Denkanstrengungen, die sich klar abgrenzen von der Gewohnheit, die Sinneseindrücke unreflektiert auf sich wirken zu lassen und sich mit dem zu begnügen, was sie spontan im eigenen Inneren anregen. Solange die äußere Welt noch atavistisch als geistdurchdrungen und seelisch belebt erfahren wurde, war eine solche Haltung berechtigt. Doch diese Zeit war vorüber, und wenn jetzt keine besonderen Anstrengungen unternommen wurden, konnte die seelische Resonanz auf Sinneserfahrungen nur noch in der Form auftreten, in der wir sie bis heute kennen: als ein kaum entwirrbares Gemenge assoziativ sich ergebender Vorstellungen und Empfindungen, die ziellos hierhin und dorthin schweifen und sich im Nu vom Ausgangspunkt entfernen.
Die geforderte strenge Schulung bestand folglich darin, einen Gedanken vorsätzlich zu fassen und ihn kontrolliert Schritt für Schritt weiter zu entwickeln, unabhängig sowohl von äußeren Reizen wie auch von seelischen Regungen. Nur so konnte das Ziel erreicht werden, Herr über sein Denken zu werden.
Indem sie sich darin schulten, gelangten die führenden Philosophen zu einer epochalen Entdeckung: Jedes exakt geführte Denken stößt auf unverrückbare Gesetzmäßigkeiten der Logik, die nicht aus der Willkür des eigenen Subjekts stammen, sondern sich objektiv aus dem Denken selbst ergeben und folglich für alle Menschen gelten. Die Wissenschaft, die daraus entstand, wurde von Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) begründet. Seine Schriften zur Logik wurden wegweisend für die folgenden Jahrhunderte.
In der lateinisch sprechenden Gelehrtenwelt des Hochmittelalters griffen die Scholastiker seine Ergebnisse auf und entwickelten sie weiter, indem sie systematisch daran arbeiteten, gedankliche Schlüsse nach allen Seiten gegen Missbrauch und Fehlschlüsse so abzusichern, dass man das Ergebnis als «wahr» und der Wirklichkeit entsprechend ansehen konnte. Ihre Bemühungen gipfelten in dem erfolgreichen Versuch, gültige Regeln für jede wissenschaftliche Beweisführung zu entwickeln. Wikipedia führt das folgendermaßen aus:
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