"Ach nein!"
"Riesig naiv für sein Alter," so ergänzte sie. "Was man eine gläubige Natur nennt, meine ich."
"Das ist ja —"
Phili lachte kindisch. Der Rest der Gesellschaft sah sich ernst an.
"Frau Herzogin verzeihen, das ist ja gottvoll."
"Mein Lieber, das ist nicht gottvoll," berichtigte seine Gemahlin. Sie saß lang und weißlich da.
"Dieser Pavic, Hoheit, ist unser gefährlichster Revolutionär. Er verhetzt unser gutes Volk, er will uns vertreiben. Wir sollen im Exil enden oder auf der — der Guillotine."
Sie sprach säuerlich und jeden Widerspruch aus schließend.
"Wenn Euere königliche Hoheit davon überzeugt ist …" sagte die Herzogin.
"Das ist so."
"Dann müsste man einmal mit ihm reden. Übrigens hat er schon im Kerker gesessen, das fand ich famos. Sie könnten ihn ja wieder hineinsetzen."
"Wenn das heute noch ginge."
"Auch ist es sicher nicht nötig. Er begeht keine Gewalttaten, er ist fromm."
"Weil er die Geistlichkeit braucht."
"So ein Heuchler!" rief Phili. "Er hält's mit die Je-su-iten."
"Königliche Hoheit erlauben," äußerte Percossini mit zärtlicher Stimme. "Es fragt sich, für wie wichtig man den Herrn hält. Mit etwas Geld wäre er natürlich leicht zu beschwichtigen."
"Ich bezweifle es," sagte die Herzogin.
"Geld!" schrie entrüstet Tintinovitsch. "Prügel!"
"Prügel, wollen Sie sagen, Baron," schrie Paliojoulai.
Ihre Gattinnen fragten in süßen Tönen:
"Ihr habt ihn doch schon einmal durchgehauen. Wenn königliche Hoheit der Meinung ist, so tut ihr's eben nochmals. Nicht wahr, Eugene? Nicht war, Maxime?"
"Ah! Sie haben damals die Exekution übernommen," versetzte die Herzogin. "Sagen Sie bitte, meine Herren, befindet sich bei Doktor Pavic' Wohnung nicht eine Apotheke, wo man Verbandzeug bekommt? Ich frage nur beiläufig."
Die beiden bewegten fassungslos ihre weißen Augäpfel, sie rissen die Münder auf und zeigten ihre vollständigen Gebisse wie zwei große, braune Nussknacker. Die Herzogin überlegte ungeduldig: "Wie komme ich dazu, mich wegen des Pavic aufzuregen? Aber die Dummheit all dieser Leute zwingt mich ja, Partei zu ergreifen." Nach einer verlegenen Pause begann die Prinzessin schleppend zu sprechen.
"Nein, ich halte es nicht für möglich, alle Klagen vermittelst Prügel zu beseitigen. Aber beseitigt müssen sie werden. Ich werde sogar schon in allernächster Zeit eine Suppenküche eröffnen lassen. Baron Percossini hat von meinen diesbezüglichen Weisungen Notiz genommen."
Der Kammerherr verneigte sich.
"Am nächsten Mittwoch beginnen wieder unsere Strickabende bei den Dames du Sacré Coeur. Samstag ist dann an den jungen Mädchen die Reihe. Bitte, sich daran zu erinnern, meine Damen. Das Volk soll Suppen und wollene Westen erhalten, das ist mein fester Wille. Ferner das Geistige. Wir sind jetzt ja allerdings katholisch…"
"Allerdings," bestätigte schnarrend von Hinnerich.
"Trotzdem, meine ich, könnten wir einen Bibelverein gründen. Sie gehen doch fleißig mit den Sammellisten für die Friederiken-Versöhnungskirche umher, meine Herren Paliojoulai und Tintinovitsch? Vergessen Sie nicht den Baron Rustschuk; diese Juden können geben."
Die künftigen Croupiers rollten weiße Blicke gen Himmel.
"Und die Feste?" äußerte Prinzessin Fatme, die unvermutet im Lichtkreise der Kerzen erschien.
"Wo bleiben die Wohltätigkeitsfeste, liebste Friederike? Ein Bazar, eine Weihnachtskrippe, nicht wahr, so nennt ihr das? Beate Schnaken verkauft Puppen; die Schnaken kleidet reizend Puppen an. Ich habe eine türkische Konfiserie. Mesdames Paliojoulai und Tintinovitsch…"
"Und ein Ball!" bat Frau Tintinovitsch.
Fatme war schmerzlich berührt.
"O nein, kein Ball!"
Sie watschelte mit kurzen Beinen unbehilflich auf Friederike von Schweden los und fiel ihr plump um den Hals.
"Bitte, du Süße, kein Ball!"
Die Prinzessin tröstete sie.
"Liebste, auch ich halte nichts vom Tanzen. Dagegen werde ich den Polizeidirektor veranlassen, dass er die Wirtshäuser um neun Uhr schließt. Ferner denke ich auf die Frauen einzuwirken, dass sie nicht mehr aufs Rad steigen, sondern Kompott einmachen, was ich für sittlicher halte. Überhaupt muss die Unsittlichkeit aufhören. Das wäre, denke ich, alles. Oder sollte ich noch etwas vergessen haben?"
Niemand hatte Ergänzungen zu machen.
"Es ist ganz gut, liebe Herzogin, dass Sie mich heute Abend auf die Sache gebracht haben. Einmal muss die soziale Frage doch aus der Welt kommen."
So schloss die Prinzessin, merklich gereizt.
Die Gattin des türkischen Gesandten schlug sich klatschend vor die üppige Brust, sie machte ein unsäglich verwundertes Gesicht.
"Ich begreife gar nicht, was ihr euch für unnütze Mühe gebt, ihr seid doch zu unerfahren. Hört einmal, wie mein Mann es gemacht hat, als er in Kleinasien Pascha war. Die Christen kamen von den Feldern, es waren auch Gläubige dabei, und alle hatten nichts zu essen und waren schrecklich aufgebracht. Mein Mann ließ ihnen sagen, er habe Mehl die Menge, sie sollten nur in den Hof des Kastells kommen. Sie kamen; und kaum waren alle zwischen den hohen Mauern eingepfercht, da ließ mein Mann die Tore schließen, und von oben herab —"
Fatme lachte zwischen den Worten. Ihre Erzählung war ein kindliches Gezwitscher.
"— von den Mauern herab wurden sie alle massakriert. Haha! Massakriert."
"O! O!" machten die Damen Paliojoulai und Tintinovitsch, und in ihren Seufzern mischten sich Grauen und Verlangen.
"Sie drängten sich und schrien wie Schweine auf einem zu engen Fleischerwagen, wenn eines nach dem andern vom Fleischer herabgeholt wird."
Die Prinzessin lächelte nachsichtig.
"Nein, du Gute, das würde bei uns doch zu viel Anstoß erregen."
Von Hinnerich trat geräuschvoll von einem Fuß auf den andern.
"Leider!" schrie er plötzlich, dunkelrot im Gesicht. Der preußische Major war begeistert von der Anekdote der Haremsdame.
"Es bleibt bei den Suppen und den wollenen Westen," so entschied Friederike von Schweden.
"Nicht wahr, meine liebe Herzogin von Assy, Sie übernehmen bei einem meiner guten Werke den Ehrenvorsitz. Sie interessieren sich doch auch für die Lösung der sozialen Frage."
"Königliche Hoheit, ich habe noch nicht daran gedacht. Möglichenfalls fällt es mir einmal ein…"
Man erstaunte auf allen Seiten.
"Aber warum geben Hoheit sich alsdann mit dem Pavic ab?"
"Warum waren Sie drüben bei den Morlaken?"
"Zweimal schon?"
"Weil ich mich langweilte," erklärte die Herzogin. "Da dachte ich an das Volk. Denn das Sonderbarste, was ich im Leben kennen gelernt habe, ist das Volk. So oft ich ihm begegnet bin, ist es mir ein Rätsel gewesen. Es gerät nämlich in Wut über Dinge, die ihm vollständig gleichgültig sein könnten, und glaubt an Dinge, die eigentlich nur ein Verrückter für wahr halten kann. Wenn man ihm einen Knochen hinwirft, wie einem Hunde — und wo ist denn der Unterschied? — so