Eine Stadt dreht durch. Andreas Heinzel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Heinzel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783948987206
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abgewinnen. Im Gegenteil schien er ein festes Regelwerk geradezu zu suchen und fand es in Form einer schlagenden Verbindung, der er noch im ersten Semester beitrat und die ihm neben dem Respekt der Kommilitonen einen prächtigen Schmiss an der linken Wange einbrachte. Im Kreise seiner Kameraden galt Joachim als leidenschaftslos und ging höchstens bei den regelmäßig stattfindenden Gelagen aus sich heraus. In der Tat konnte er sich nur für sehr wenige Dinge begeistern, in erster Linie für Fußball, insbesondere die Mannschaft seiner Heimatstadt, die Frankfurter Eintracht.

      Der Wagen des Bestattungsinstituts bog in die Einfahrt unseres Anwesens in der Mörfelder Landstraße ein und fuhr leise durch den knöchelhohen Schnee. Ich beobachtete das Ganze hinter dem Vorhang des Salons, denn ich erwartete die Herren bereits. Ich hatte sie eigens darum gebeten, erst nach Einbruch der Dunkelheit zu erscheinen, da ich die Neugier der wenigen Nachbarn nicht unnötig wecken wollte. Womöglich dächten sie sonst noch, im Hause Steinhoff sei jemand verstorben.

      Den Zeitpunkt der Lieferung hatte ich in weiser Voraussicht gewählt. Joachim war mit den wenigen noch verbliebenen Studienfreunden zur Partie seiner Eintracht nach München gereist. Der Besuch eines gemeinsamen Auswärtsspiels war das letzte verbliebene Relikt der jahrzehntelangen Stadionbesuche, ein Anlass, die Freunde von früher einmal im Jahr zu treffen und vor und nach dem Spiel auf gute alte Zeiten anzustoßen. Nicht einmal ins Waldstadion, das er unbeirrbar so bezeichnete, ging er noch. Joachim war zwar erst vierundsiebzig Jahre alt, doch hatte er ein paar Jahre zuvor die Entscheidung getroffen, die Spiele seiner Mannschaft von nun an ausschließlich am Fernseher zu verfolgen, was er seitdem auch konsequent und ausnahmslos beherzigte.

      Ich zog mir den Mantel über und ging den Herren, die gewohnheitsmäßig ihre Hüte vor mir zogen, die wenigen Stufen von der Pforte in den Garten entgegen.

      „Guten Abend, Frau Steinhoff. Wohin dürfen wir das gute Stück denn bringen?“

      „Ich zeig’s ihnen“, antwortete ich, lief voraus und öffnete mit der Fernbedienung das Tor der Garage, das sich nahezu geräuschlos hob und den Blick auf ein rotes Jaguar Cabriolet freigab, welches sich Joachim nach der Pensionierung geleistet hatte und das er nach wie vor an drei, vier geeigneten Sommertagen im Jahr zu einer Spritztour in den Taunus ausfuhr. Von Zeit zu Zeit hatte ich daran teilgenommen, doch inzwischen ließ ich ihn überwiegend alleine fahren.

      Abgesehen von diesen wenigen Gelegenheiten betraten wir die Garage eigentlich nie. Sämtliche notwendigen Fahrten absolvierten wir mit dem Taxi, was weitaus bequemer und sicherer war, zumal ich mich auf Joachims Beifahrersitz zusehends unwohler fühlte. Seine Reaktionszeit hatte sich spürbar verlangsamt, und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er deswegen einen Unfall verschulden würde.

      „Stellen Sie ihn bitte dorthin“, sagte ich und deutete auf die vier neben dem Jaguar platzierten Getränkekisten. Die Kisten aufzureihen, hatte mich mehr Anstrengung gekostet, als ich bei der Planung vermuten konnte. Die beiden Männer nickten zustimmend, kehrten zu ihrem Fahrzeug zurück und öffneten die Heckklappe des Kombis. Sie zogen den schweren Eichensarg aus dem Laderaum und trugen ihn bedächtigen Schritts, ganz so, als würde sich tatsächlich jemand darin befinden, in die Garage, setzten ihn vorsichtig auf den Getränkekisten ab und verbeugten sich davor.

      „Wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben, Frau Steinhoff: Eine solch kluge und weitsichtige Entscheidung erleben wir ausgesprochen selten. Ich denke, Ihr Gatte wird sich sehr darüber freuen.“

      „Das denke ich auch“, sagte ich. „Später hat er doch nichts mehr davon. So kann er jetzt schon dem Tag entgegenfiebern, wenn das in Ihren Ohren vielleicht auch etwas makaber klingen mag.“

      „Ganz im Gegenteil, leider denken viel zu wenige Menschen wie Sie. Sie scheinen Ihren Mann sehr zu lieben.“

      „Oh ja“, antwortete ich. „Das tue ich, meine Herren.“

      Ich begleitete die Herren zum Fahrzeug, verabschiedete mich mit Handschlag und wünschte beiden ein frohes Fest. Bezahlt war der Sarg bereits, die Geburtstagskarten meines Mannes hatten schließlich doch noch eine sinnvolle Investition zugelassen. Eine Anschaffung, von der er natürlich keine Ahnung hatte. Ich zog den Mantel enger um den Körper, ging vorsichtig, um auf dem frischen Schnee nicht auszurutschen, zur Garage zurück und verschloss das Tor hinter mir.

      Liebe. Ich musste lachen. Das war einmal, wenn überhaupt. Joachim liebte nur seinen Verein, für größere Gefühle war in seinem Herzen kein Platz. Schon gar nicht für mich. Als mir das klar wurde, als ich erfasste, dass ich in Joachims Leben keine Rolle spielte, vielleicht nie gespielt hatte, empfand ich einzig und allein Bitterkeit. Die Liebe bis in alle Ewigkeit, das Füreinanderdasein, bis dass der Tod euch scheidet, all diese Floskeln, die wir uns in der Kirche vor langer Zeit versprochen hatten, alles hatte seine Gültigkeit verloren. Wenn ich ehrlich war, hatte ich mich nur nicht scheiden lassen, da Joachim ein erstklassiger Jurist war und es für ihn ein Leichtes gewesen wäre, mich von heute auf morgen mittellos auf die Straße zu setzen. Also arrangierten wir uns irgendwie, und die Liebe bis in alle Ewigkeit überließ ich Joachims Verbundenheit zur Eintracht.

      Ich hob den Deckel des Sargs und klappte ihn nach oben. Was ich sah, beeindruckte und begeisterte mich gleichermaßen. Ich hatte den Sarg von Hand fertigen lassen, hatte eigens den Klappmechanismus in Auftrag gegeben, sodass man das massive Stück auch leicht alleine anheben konnte. Der Korpus war mit edler schwarz-weißer Seide ausgeschlagen, der Boden bedruckt mit den Konterfeis von Joachims Fußballheroen. Die meisten Spieler kannte ich gar nicht, doch standen unter den Köpfen die Namen: Anthony Yeboah, Manfred Binz, Oka Nikolov, Jay-Jay Okocha und viele andere las ich heute zum ersten Mal. Bernd Hölzenbein und Jürgen Grabowski waren hingegen selbst mir ein Begriff.

      Auf der Innenseite des Deckels hatte ich den Text des Eintracht Lieds drucken lassen, auf den Umrandungen waren sämtliche sportlichen Erfolge der Mannschaft vermerkt. Das Kissen, auf dem in ein paar Jahren Joachims gelblich-fahler Schädel zur ewigen Ruhe gebettet würde, zierte das Wappentier des Vereins, ein schwarzer Adler.

      Ich betrachtete Detail für Detail und stellte zufrieden fest, dass es sich bei meinem ersten Weihnachtspräsent nach Jahrzehnten um ein kostbares Stück Handwerkskunst handelte. Ein Kleinod, für das sich jeder Euro gelohnt hatte. Joachim würde darin seine ewige Ruhe finden, und zwar ohne mich. Ich hatte längst testamentarisch verfügt, dass ich keinesfalls an seiner Seite beerdigt, sondern verbrannt und anschließend im Grab meiner Eltern bei Donauwörth beigesetzt werden wollte. Nicht ausgeschlossen, dass der Sarg mein letztes Geschenk an ihn war, das wusste man in unserem Alter nie. Jedenfalls freute ich mich auf sein Gesicht. Wenn man den eigenen Sarg sieht, wird einem die Endlichkeit der eigenen Existenz bewusst. Genau das wollte ich, ihm seine Grenzen aufzeigen. Ich wollte ihn erschrecken, ihm bewusst machen, dass seine Zeit bald abgelaufen war. Vielleicht bereute er dann das Leben, das er geführt, die ständigen Demütigungen, die er mir zugefügt hatte. Nicht mehr lange, Joachim, dann würde diese hölzerne Kiste dein finales Zuhause. Gewöhne dich schon mal daran.

      Ich hätte beim besten Willen nicht sagen können, wann meine Liebe zu Joachim erloschen war. Zweifelsohne war er trotz der massiven Narbe auf der Wange ungemein attraktiv gewesen, als ich ihn Mitte der Siebziger Jahre in der Anwaltskanzlei am Goetheplatz kennengelernt hatte, in der ich zu der Zeit als gerade ausgelernte Rechtsanwaltsgehilfin arbeitete. Eigentlich war mein Plan gewesen, selbst Jura zu studieren, den notwendigen Abiturdurchschnitt hatte ich problemlos erreicht, doch konnte ich mir das Studium finanziell nicht leisten, und so bewarb ich mich nach längerer Überlegung für eine Berufsausbildung in einer Richtung, die meinem ursprünglichen Interesse entsprach.

      Der junge Anwalt Joachim F. Steinhoff stand hingegen gerade am Beginn einer großen Karriere, soviel war bereits nach den ersten Wochen offensichtlich. Sein forsches Auftreten, der kristallklare Verstand und sein argumentatives Geschick vor Gericht sprachen sich schnell herum, und so dauerte es nicht lange, bis Joachim das Angebot bekam, als Teilhaber in die Kanzlei einzusteigen. Zu diesem Zeitpunkt ging ich mit ihm bereits ins Bett. Ich hatte zwar vielleicht nicht das Niveau, das er sich selbst für sich erhoffte, doch ich war schön. Nicht hübsch, sondern regelrecht schön. Ohne eitel wirken zu wollen, muss ich sagen: Ich hätte damals jeden Mann in Frankfurt haben können, doch ich entschied mich für Joachim. Irgendetwas an ihm zog mich an, damals zumindest.

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