Brian langweilte die puristische Jazz-Bewegung schon lange. Stattdessen nahm er sich Freddie Green, den Gitarristen in Count Basies Band, zur Brust. „Hör dir den Typen mal an“, versuchte er Keen zu überzeugen, „wie seine Akkordarbeit die ganze Band zum Swingen bringt!“ Von Green inspiriert, setzte sich Brian intensiv mit den komplizierten Feinheiten des Gitarrenspiels in einer Bigband auseinander. „Er differenzierte nicht zwischen traditionellem Jazz, Mainstream Jazz, Modern Jazz und Blues“, erzählt Keen. „Er bediente sich aller Stile, wobei der Blues sich als sein Hauptinteresse herausstellte.“ Obwohl der Rock ’n’ Roll in den USA und in Großbritannien zu einer Selbstparodie verkommen war, zeigte sich Brian immer noch von Elvis, Little Richard und Chuck Berry begeistert und brachte darüber hinaus anderen Gitarristen Chuck-Berry-Licks bei. Er hörte auch die Musik von Charlie Christian, Benny Goodmans visionärem Gitarristen. „Damals gab es einen Wissensschatz, auf den man nicht zugreifen konnte“, führt Keen weiter aus. „Darüber stand nichts in Büchern. Wie hätten wir etwas darüber erfahren können? Doch Brian hatte die Finger einfach überall drin.“
Obwohl er sich häufig in Begleitung von Dick Hattrell oder John Keen zeigte, hatte Brian auch das Selbstvertrauen, bei einem Konzert in der Stadthalle oder in einem Club über den Schwimmbädern aufzutauchen. Dort überredete er ältere und erfahrenere Musiker, ihn auf die Bühne zu lassen. Nach einem Abend in der Stadthalle saß Bandleader Kenny Ball mit Brian zusammen und sprudelte beinahe über vor Lob: „Du bist so jung – wie hast du gelernt, so zu spielen?“ Keen, der an dem Abend ebenfalls anwesend war, saß da und unterbrach den Leader nicht. Er war vollkommen zufrieden damit, dass dessen Lob auch auf ihn abstrahlte. Ein ähnliches Ereignis ergab sich mit Alex Welshs Band in der St. Luke’s Hall, wo Brian während mehrerer Songs einen kräftigen und treibenden Rhythmus ablieferte, worauf ihm die älteren Musiker anerkennende Blicke zuwarfen. „Die wussten das zu schätzen“, meint Keen. „Ein so junger Bursche, und dann noch in der Provinz – die zeigten sich ganz offen verblüfft.“
Keen nimmt an, dass Brian 1961 „gut über einhundert“ Gigs und Gastauftritte hinlegte, darunter einige Dutzend Shows mit der eigenen Gruppe. Rechnet man noch die Stippvisiten bei Bill Nile dazu, Auftritte mit den Barn Owls und ganz frühe und eher unbedeutende Einsätze im Keller vom Filbys, steht eine Tatsache außer Frage: Der junge Gitarrist häufte viel schneller als seine Zeitgenossen einen unübertrefflichen Erfahrungsschatz an.
Seine rasante und obsessive Suche nach neuer Musik intensivierte sich ab Sommer des Jahres, als sein neuer Mitbewohner Graham Ride in der Szene aufschlug. Graham hatte die Musik von Leadbelly schon einige Jahre zuvor entdeckt und kannte den Chicago Blues durch die Pionierarbeit eines Chris Barber. Barber war 1959 zur South Side in Chicago gereist und vermittelte danach innovative Musiker wie Muddy Waters und Sister Rosetta Tharpe nach Großbritannien, direkt vor den Augen der britischen Musikergewerkschaft, die alles versuchte, um „fremde“ Künstler fernzuhalten. Graham war von Liverpool aus nach Cheltenham gezogen und spielte in einer Lokalband Klarinette, als er im Mai Dick und Brian kennenlernte. Während des ersten gemeinsamen Nachmittags hörte sich Graham die musikalischen Schwärmereien der beiden an und den Streit, wer denn nun wieder das Essen aus dem Kühlschrank gestohlen hatte – halt ein typischer Tag im Selkirk House. Später im Sommer bezog Graham die Wohnung und brachte eine EMI/Vee Jay-Compilation mit dem Titel The Blues mit. Darauf befanden sich Songs von Elmore James und Jimmy Reed, die beide wichtige Eckpfeiler in Brians kleiner Welt werden sollten. Aus Graham und Brian wurden gute Kumpel. Graham trat im Gegensatz zu dem locker-lässigen Dick energischer auf. Ihm konnten Brians Launen kaum etwas anhaben. Allerdings fielen ihm schon von Anfang an die Spannungen auf, die der junge Gitarrist provozierte. Das war auch nicht schwer. In dem Sommer trafen sie Brians Schwester Barbara auf der Promenade: Die 15-Jährige, die ihrem Bruder ein wenig ähnelte, wirkte ängstlich, als hätte man ihr ein Gespräch mit ihm verboten. Nach einem kurzen Wortwechsel ließ sie die beiden einfach stehen. Brian erzählte Graham oder John Keen nie etwas über Lewis und Louisa, obwohl die Eltern des Letzteren die Jones’ gut kannten: „Falls das Thema aufkam, vermied er jedes Gespräch. Man hatte schnell den Eindruck, als wolle er ihrem Einfluss entkommen, egal wie.“ Pat Andrews, die den Großteil des Sommers mit Brian verbrachte, glaubt, dass seine Entfremdung nie zu einem Abschluss kam, dass sie sich weiterhin auswirkte und einen schweren psychologischen Schaden verursachte. „Er wollte eigentlich nur, dass sie ihn einmal lobten. Er wollte nur das, bekam es aber nie.“
Graham war sich der Fehler von Brian bewusst, mochte ihn aber trotz der Defizite: Brian war klug, belesen und enthusiastisch. Seine Fähigkeit zu manipulieren wirkte sich „nie bei mir aus. Ich glaube nicht, dass er bei mir eine Charme-Offensive startete. Klar, er schwatze mir indirekt Geld ab, da ich für Zigaretten und Drinks zahlte. Doch das ist ja eigentlich ganz normal, gehört zum Erwachsenwerden. Du wohnst nicht mehr zu Hause und Freunde sind dann sehr wichtig.“
Tatsächlich gefiel Graham die leicht chaotische Grundstimmung. Er und Brian konnten sich über die Begegnungen, die das Leben des zukünftigen Stone bestimmten, schlapp lachen. Im Mai oder Juni vertraute er sich Graham und Dick an, verriet ihnen, dass seine Freundin Pat schwanger war. Den Rest des Sommers verhielt sich Brian nach Dicks Aussage vorbildlich – „er blieb Pat treu“ –, doch ohne dafür Anerkennung zu erlangen. Einige Zeit später schlenderten er und Graham die Promenade auf dem Weg zum Waikiki entlang, als Brian plötzlich fluchte. Pat Andrews’ Mutter und ihre Schwester hatten ihn gesehen. Die Mutter marschierte auf ihn zu, ließ eine Tirade unflätiger Bemerkungen vom Stapel und prügelte mit ihrem Schirm auf Brian ein. Auch Graham musste sich ducken, um den Schlägen auszuweichen, die jetzt auf ihn niedergingen. Brian nutzte die sich ihm dadurch bietende Chance und rannte lachend in einem Höllentempo davon, während Graham das Rückzugsgefecht einleitete.
Graham, John und Dick erlebten Brians ungeordnetes Leben; immer stand er am Rand der Pleite. Ständig schnorrte er Geld. Viele Stammgäste der Cafés von Cheltenham sahen sich plötzlich von Brian in eine Ecke gedrängt, wie gebannt von seinem jungenhaften, entschuldigenden Lächeln und fühlten sich genötigt, ihm einige Schilling für eine Tasse Tee oder ein Sandwich zu spendieren. Doch für die drei jungen Männer, mit denen er musikalisch arbeitete, überwog seine Leidenschaft für die Musik diesen störenden Charakterzug.
Im Herbst 1961 wurde aus den Obsessionen, die sein Leben bestimmten, ein musikalisches Manifest. Er hatte schon viel Blues gehört, doch der Sound von Jimmy Reed und Elmore James, nicht zu vergessen die gerade entdeckten Muddy-Waters-Alben, entwickelten eine geradezu magnetische Anziehungskraft. Es ist den Stones zu verdanken, dass man diese Giganten des elektrischen Blues begeistert feierte und ihr Einfluss die Sechziger- und Siebzigerjahre durchdringen sollte. Doch 1961 galten sie noch als mysteriöse Figuren. Wollte man an Informationen über ihr Leben und ihre Veröffentlichungen gelangen, musste man sie sich in mühevoller Kleinarbeit aus verschiedenen Quellen beschaffen.
Zuerst faszinierte Brian die Musik von Elmore James, der für einen schillernden, glänzenden und aufwühlenden E-Gitarren-Sound stand, nicht zu vergleichen mit allem, was er bislang gehört hatte. Er spielte unentwegt „Coming Home“ von Graham Rides Vee-Jay-Compilation und entdeckte dabei, dass James einen metallischen Gegenstand oder einen Flaschenhals benutzte, um über die Saiten zu gleiten, wobei er die Gitarre in „Open D“ stimmte. [Bei den sogenannten „Open Tunings“ werden meist mehrere Saiten im Gegensatz zur Standardstimmung tiefer oder höher gestimmt. Dadurch ergibt sich eine bestimmte Harmonik, die für das Slide-Gitarre-Spiel notwendig ist., A.T.] Brian