2.Wie man ungeahnte Perspektiven gewinnt
Die verkrümmte Frau – Lukas 13,10–17
Was für eine Geschichte! Eine Frau läuft 18 Jahre lang verkrümmt durch die Welt. 18 Jahre … das galt damals als Dauer einer ganzen Generation. 18 Jahre lang lebt die Kranke nicht »aufrecht«, 18 Jahre lang schaut sie nicht nach vorne, sondern auf ihre Füße, nicht nur nach unten, sondern vor allem nach »innen«, auf sich selbst. Ja, diese Frau sieht – im wahrsten Sinne des Wortes – nur noch sich selbst. Das bedeutet zugleich: Dadurch wirkt sie für andere viel kleiner, als sie in Wirklichkeit ist. Und auch ihre Wahrnehmung der Welt ist begrenzter, als sie sein müsste.
Wenn das kein Bild für eine Institution ist, der Kritiker seit langem vorwerfen, sie kümmere sich vor allem darum, ihren eigenen Betrieb am Laufen zu halten. Der Zeit-Redakteur Tilmann Prüfer jedenfalls erklärt sehr direkt: »Die evangelische Kirche ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt.« Nach innen schauen, die Weite der Möglichkeiten nicht mehr wahrnehmen, sich um sich selbst drehen, mit eingeschränktem Horizont leben: Für all diese Phänomene steht die verkrümmte, Frau, die vor 2000 Jahren in einer Synagoge auf Jesus trifft.
Übrigens hat diese Heilungsgeschichte schon damals das »Wieder-Aufrichten« einer ganzen Institution im Blick: Die Entwicklung der Handlung macht nämlich deutlich, dass es hier auch um ein verkrümmtes Selbstbild von Gemeinde geht. Dies wird durch den Synagogenvorsteher (dem örtlichen Vertreter der Institution) symbolisiert, der die Anwesenden nach dem Wunder heftig anschnauzt, wie sie es denn wagen könnten, gegen die Traditionen des religiösen Betriebs (die bestimmte Heilungen am Sabbat verbieten) zu verstoßen. So endet das Ganze in einer Diskussion darüber, dass eine Glaubensgemeinschaft sehr wohl die Konzentration auf das Wesentliche verlieren kann, wenn sie nur noch ihre internen Abläufe sieht – eben, weil sie in sich »verkrümmt« ist.
Es ist dabei wichtig, dass wir den Synagogenvorsteher als Vertreter einer festgefahrenen Institution sehen und nicht als allgemeinen Repräsentanten des Judentums. Jesus hat regelmäßig betont, dass er sich als Gesandter für das Volk Gottes versteht. Das heißt: Er denkt und handelt niemals antijudaistisch, sondern bekämpft grundsätzliche menschliche Fehlentwicklungen, die Gottes Heilshandeln im Wege stehen. Genau deshalb werden (wie wir in späteren Kapiteln sehen werden) oftmals auch die Jünger als negatives Beispiel angeführt: Sie sind es, die Kindern, Notleidenden und Fremden den Zugang zu Jesus durch ihr Verhalten erschweren. Man könnte sogar sagen, dass es in Heilungsgeschichten erstaunlich oft um das Aufeinandertreffen zweier Prinzipien geht: das lebendige Wort Gottes gegen die vielen menschlichen Verkrustungen.
Insofern haben die beiden Teile dieser Erzählung aus dem Lukasevangelium das gleiche Thema: Was muss passieren, damit etwas »Verkrümmtes« (die Frau und die Institution) wieder »gerade« wird, damit »Innen-Orientiertes« wieder »außen-orientiert« wird, damit etwas »Mit-sich-selbst-Beschäftigtes« wieder »über den Tellerrand« blicken und die Weite des Glaubens wahrnehmen kann? Damit sozusagen ein »umgekehrter Hexenschuss« stattfindet? – Schauen wir uns das mal an.
Das Geheimnis der Verkrümmung
Wissenschaftler überlegen seit langem, ob die verkrümmte Frau wohl eher Skoliose, Osteoporose oder eine Psychoneurose hatte. Antwort: Das ist für die Geschichte irrelevant. Das Neue Testament nennt als Ursache ihres Leidens wörtlich: »Sie hatte einen Geist der Schwachheit!« Eine prägnante Formulierung, die (ähnlich wie im oben behandelten Wunder) deutlich macht, dass hier Ursache und Wirkung fast austauschbar sind: Ist die Frau verkrümmt, weil sie schwach ist … oder ist sie schwach, weil sie verkrümmt ist?
In unserem Fall: Ist die Evangelische Kirche schwach, weil sie nur mit sich selbst beschäftigt ist … oder beschäftigt sie sich nur mit sich selbst, weil sie schwach ist? Egal! Die entscheidende Botschaft lautet: »Um-sich-selbst-Kreisen« ist ein Zeichen von Schwachheit. Die Frau zumindest ist so schwach, dass es von ihr heißt: »Sie konnte sich selbst nicht mehr aufrichten!«
Traurigerweise ist die Frau so sehr in sich verkrümmt, dass sie von sich aus gar keinen Versuch wagt, mit Jesus in Kontakt zu kommen. Viele Heilungsgeschichten im Neuen Testament erzählen davon, wie Menschen sehnsuchtsvoll auf Jesus zustürmen, weil sie sich von ihm Hilfe erhoffen. Doch diese Frau ist derart auf sich fixiert, dass sie die Quelle ihrer Rettung zwar wahrnimmt, aber nicht als solche identifiziert. Mit anderen Worten: Die Frau hört das Evangelium, erwartet aber anscheinend nicht, dass diese Botschaft für sie Konsequenzen haben könnte.
Die skurrile Szenerie erinnert uns an ein Seminar über »Gottesdienste«, in dem wir die Teilnehmenden zu Beginn neugierig gefragt haben: »Wer von Ihnen erwartet eigentlich noch, dass Gott im Gottesdienst spürbar und erfahrbar wirkt?« Von den etwa 40 Anwesenden meldeten sich … zwei! Die anderen Frauen und Männer des Seminars erklärten anschließend zwar auch, dass es grundsätzlich zu ihren Hoffnungen gehöre, dass Gott im Gottesdienst gegenwärtig sei. Dass er aber konkret Leben verändern könnte – in diesem sonntäglichen Geschehen –, das war für die meisten ein eher ungewohnter Gedanke. Und so haben wir anschließend lange und intensiv darüber diskutiert, was es wohl ändern würde, wenn alle Anwesenden eines Gottesdienstes in Zukunft mit der Gewissheit in der Kirche säßen: Hier und jetzt kann und will etwas Himmlisches geschehen!
Eine herausfordernde Vorstellung, die sich übrigens sofort auf unsere Fragestellung übertragen lässt: »Erwarte ich eigentlich noch, dass Gott mich heilen kann?« Erwarten wir als Kirche noch, dass Gott uns heilen kann? Eine wichtige Klarstellung für alle Glaubenden … und ein nötiger Selbsttest: »Was erwarte ich von Gott?« … »Was traue ich ihm überhaupt noch zu?«
Aber schauen wir uns erst noch einmal das Geschehen in der Synagoge an. Denn es lohnt sich, jetzt ganz genau hinzugucken: »Als Jesus die verkrümmte Frau sah, rief er sie zu sich und sprach zu ihr: ‚Frau, du bist erlöst von deiner Krankheit!‘« Punkt. Jesus spricht ein wirkmächtiges Wort, er sagt der Verkrümmten mit all seiner Vollmacht Erlösung zu … und … nichts passiert. Oh! Verrückt, oder?
Dieser kranken Frau wird vom Sohn Gottes Heilung für ihr Leiden verheißen, aber das reicht offensichtlich nicht. So, wie es anscheinend auch nicht reicht, dass jeden Sonntag in Deutschland von Tausenden von Kanzeln den Menschen die Botschaft von der Liebe Gottes verkündet wird. Das »Wort allein« scheint selbst bei Jesus nicht genug zu sein. Zumindest nicht bei einer verkrümmten Persönlichkeit, die nicht mehr damit rechnet, dass sie Heilung erfahren kann. Deren Erwartung so gering ist, dass sie inzwischen eine Art Schutzschild um sich aufgebaut hat. Es braucht mehr. Und genau das passiert jetzt auch.
Die Kunst, den anderen zu »berühren«
»Und er legte die Hände auf sie; und sogleich richtete sie sich auf und pries Gott.« Darum geht es: Das Geheimnis dieser Heilung ist die Berührung. In dem Augenblick, in dem Jesus die Frau mit seinen Händen berührt, geschieht das Wunder. Das heißt nicht, dass man sich in allen Gottesdiensten von nun an ständig anfassen soll (wobei es nicht schaden könnte, Menschen öfter segnend die Hände aufzulegen). Vielmehr lenkt es den Blick auf die Frage: »Wie können wir sicherstellen, dass das, was wir in der Evangelischen Kirche anbieten, die Menschen berührt?« Und: Wann tut es das – und wann nicht?
Weil wir später sowohl bei der Heilung der blutflüssigen Frau, als auch bei der Heilung des Aussätzigen auf den Aspekt der Berührung noch näher eingehen, hier nur einige kurze Anmerkungen: Selbstverständlich können auch Worte allein berühren, aber wir finden nach wie vor auf vielen unserer Kanzeln vor allem (zweifellos kluge) Erläuterungen, akademisch prägnante Ergüsse oder herzige Veranschaulichungen. Diese