Jesus kritisiert die Institution also in doppelter Weise: Es ist eine Schande, wenn Rituale über die Liebe gestellt werden; völlig zum Hohn wird das Ganze jedoch, wenn sich zeigt, wie sehr es hinter all diesen Regelungen menschelt und man sich zwar auf das Prinzip beruft, sich aber selbst keineswegs daran hält. Insofern ist auch die Verkrümmung eine doppelte: Die Institution nimmt sich wichtiger als Gott. Und sie betrügt sich und andere, weil sie im Bedarfsfall die Gesetze und die Tradition doch immer so auslegt, wie es ihr gefällt: »Die Liturgie ist wichtig, weil …«, »Der Gottesdienst muss immer um 10 Uhr sein, weil …«, »Dass man sich ausschließlich linksrum zum Altar drehen darf, sollte man beibehalten, weil …« Um diese Zerrissenheit zu überwinden, muss die Kirche die Kraft entwickeln, sich ihre Verbohrtheit auch einzugestehen.
»Musste nicht diese Frau, die doch Abrahams Tochter ist, die schon achtzehn Jahre gebunden war, am Sabbat von dieser Fessel gelöst werden?« Jesus konfrontiert die Institution mit der Not der Frau, um zum Ausdruck zu bringen: Gibt es für die Kirche überhaupt eine Alternative, als alles dafür zu tun, dass Heilung möglich wird? Ganz gleich, welches sakrosankte Kirchengesetz oder welche Tradition dagegensteht? Nun, zumindest unsere Geschichte endet gut: »Als er (Jesus) das sagte, schämten sich alle, die gegen ihn waren. Und alles Volk freute sich über alle herrlichen Taten, die durch ihn geschahen.«
Wie das Reich Gottes wirkt
Wie ein guter Filmregisseur hat uns der Erzähler im Lukasevangelium erst Jesus und die verkrümmte Frau gezeigt, die beiden anschließend für das Wunder zusammengebracht und uns dann die Geheilte als Jubelnde präsentiert, bevor er das Ganze (in Form eines Stimmungsumschwungs) eskalieren lässt. Der garstige Gegenspieler taucht auf, wird aber zum Glück überwunden – und am Schluss sind alle fröhlich. Happy End!
Wesentlich für unsere Perspektive sind dabei einige zentrale Faktoren:
•Ein sich verkrümmtes System kann sich nicht selbst heilen, weil es dadurch definiert ist, dass es nur nach innen schaut. Wie in dieser Heilungsgeschichte braucht das verkrümmte System Hilfe von außen. Um es fromm zu sagen: Es muss sich von Jesus neu rufen lassen. Es muss erkennen, an welchen Stellen die Institution die Schönheit des Glaubens nicht verkündet, sondern ihr im Weg steht. Und dann den Mut haben, die Hand an den Pflug zu legen, ohne zurückzuschauen.
•Dem jesuanischen Ruf muss das verkrümmte System auch folgen. Heilung und Veränderung geschehen nur aktiv, niemals passiv. So wie die verkrümmte Frau sich zum Mitwirken einladen lässt, kann ein Heilungsprozess nur gelingen, wenn der Kranke daran beteiligt ist. Das gilt auch für längerfristige Entwicklungen. Jesus erzählt im Anschluss an dieses Heilungswunder die Gleichnisse vom Senfkorn und vom Sauerteig, um den Zuhörenden deutlich zu machen: Das Reich Gottes will sich Schritt für Schritt ausbreiten, also tu das Deine dazu.
•Aufrichten muss man sich immer wieder. Darum sollte sich jede Institution, aber auch jedes Individuum regelmäßig fragen: »Stehe ich eigentlich zurzeit auf der Seite der Tradition oder der Heilung?« Geht es mir darum, liebgewordene Gewohnheiten zu bewahren, oder darum, in einer sich verändernden Gesellschaft die ständig neu zu kalibrierende Relevanz des Glaubens den jeweiligen Kommunikationsformen so anzupassen, dass Menschen davon »berührt« und »aufgerichtet« werden? Dass sie Mut bekommen, auch ihre individuelle Verkrümmung zu überwinden?
Was das konkret für das Verständnis der Gemeindearbeit bedeuten kann, habe ich (Fabian) vor einigen Jahren bei einer Studienreise in Australien erlebt. Dort im Outback habe ich eine junge Pfarrerin kennengelernt und sie gefragt: »Kriegt ihr hier auf der anderen Seite der Erde eigentlich irgendwas von der deutschen Kirche mit?« Daraufhin hat sie grinsend geantwortet: »Mehr, als euch lieb ist.« Oh! »Was meinst du denn damit?«, habe ich sie gefragt, und sie hat erwidert: »Wir in Australien haben oft das Gefühl, dass ihr in Europa zu viel in ›Zäunen‹ denkt. Ja, man hat den Eindruck, bei vielen Verantwortlichen läuft durch den Kopf ein Zaun, der die Welt in zwei Gruppen teilt; diejenigen, die drin sind, und diejenigen, die draußen sind. Maßstab für alles ist die Institution. Der Blick nach innen. Deshalb definiert ihr die kirchliche Welt auch so gerne nach ›Drinnen‹ und ›Draußen‹, ›Dazugehören‹ oder ›Nicht-Dazugehören‹: Es gibt die Getauften und die Ungetauften. Die Kirchenmitglieder und die Ausgetretenen. Die Gottesdienstbesucher und die Karteileichen. Die Mitarbeitenden und die Nicht-Mitarbeitenden. Die Kerngemeinde und die Außenstehenden. Sprich: Glauben wird über die Zugehörigkeit zur Institution und das Engagement in der Institution definiert. Und für eine ›erfolgreiche‹ Gemeindearbeit gilt meist: ›Wir versuchen, so viele wie möglich von denen, die draußen sind, nach drinnen zu holen.‹ Das meine ich mit Zaun-Denken. Und mit Innen-Orientierung.«
Dann hat sie mich angelächelt: »Weißt du, bei uns im Outback gibt es Farmen, die sind so groß wie bei euch ganze Bundesländer. So lange Zäune kannst du gar nicht kaufen. Das bedeutet: Wenn du bei uns eine Herde zusammenhalten willst, dann baust du keinen Zaun – dann legst du eine Wasserstelle an. Und wenn die Tiere merken, dass dort ihr Durst gestillt wird, dann kommen sie von alleine immer wieder. So sollten auch unsere Gemeinden sein! Wie Wasserstellen.«
Dieses Gleichnis hat mein Bild von Kirche radikal auf den Kopf gestellt: Wie können wir so Gemeinde bauen, dass dort der Lebensdurst von Menschen gestillt wird? Dass sie heil werden? Dass sie spürbar verändert werden? Denn natürlich lässt sich die Vorstellung mit der Wasserstelle auch auf das Gemeindeleben übertragen. Sie ist sogar biblisch. Jesus sagt ja: »Ich bin das lebendige Wasser, wer von mir trinkt, der wird nie mehr Durst haben.« Wo Gott wirkt, da wird der Lebensdurst gestillt.
Wie wäre es, wenn wir alle Angebote unserer Gemeinden mal daraufhin überprüfen würden, ob sie wirklich den Lebensdurst von Menschen stillen? Oder ob sie das möglicherweise nicht (mehr) tun? Ob sie von einem »Kommt nach innen«-Denken oder von einer »Wir sind für euch da«-Vision geprägt sind? Das könnte spannend werden. Es wäre der längst überfällige Perspektivenwechsel von einer in sich verkrümmten Kirche hin zu dem, der die Quelle ist.
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