Was dann geschieht, ist grandios und für das Christentum wegweisend: Jesus beantwortet die Frage der Johannesjünger nämlich weder mit einem theologischen Vortrag noch mit einem Verweis auf seine wirkmächtigen Predigten oder einem Gleichnis. Nein, er sagt ganz schlicht: »Schaut hin! Guckt euch um!« Wörtlich: »Geht und sagt Johannes, was ihr hört und seht: Blinde sehen! Lahme gehen! Aussätzige werden gesund! Taube hören! Tote stehen auf! Und Armen wird das Evangelium gepredigt.« Offensichtlich gibt es genau da, wo Jesus in diesem Augenblick wirkt, einiges zu sehen und zu erleben.
Konkret heißt das: Das Erkennungszeichen des Evangeliums ist, dass es geschieht. Spürbar und erfahrbar! Ja, das Heil erkennt man zuallererst daran, dass Menschen gesund werden: »Blinde sehen! Lahme gehen!« Daran, dass die Einschränkungen, die jemanden hindern, ein »Leben in Fülle« zu führen, überwunden werden. Kurz: Das Evangelium ist keine graue Theorie, sondern praktizierte Liebe (Gottes). Und wenn jemand mit dieser Liebe in Kontakt kommt, dann verändert sich etwas in seinem Dasein nachhaltig zum Guten.
Jedes Dogma, jede Theologie verblasst vor den leuchtenden Augen eines Menschen, dem Heil widerfahren ist. Das haben schon die frühen Propheten verstanden – und das führt Jesus seinem Wegbereiter Johannes neu vor Augen: Da, wo Gott gegenwärtig ist, geschieht Heilung; vielleicht nicht immer so, dass alle Leiden und aller Schmerz überwunden werden, aber auf jeden Fall in Form eines heilenden Hineinwachsens in das Vertrauen auf Gottes Gegenwart. Klarer kann das Reich Gottes nicht sichtbar werden.
Als Johannes der Täufer diese Botschaft hört, findet er seinen Frieden wieder: Jesus ist der Richtige, weil Menschen in seiner Gegenwart Heil und Heilung erfahren.
In diesem Buch wagen wir ein außergewöhnliches Experiment: Wir ändern einfach mal die Perspektive! Wir drehen den Spieß um, indem wir als protestantische Theologen nicht nur auf individuelle Glaubenserfahrungen schauen, sondern uns fragen, ob wir die neutestamentlichen Erzählungen vom heilenden Handeln Jesu auch auf unsere Kirche beziehen können. Schließlich stellt Heilung – in all ihren Dimensionen – das Herzstück christlicher Verkündigung dar. Kann also nicht nur ein Einzelner, sondern auch eine Gemeinschaft geheilt werden?
Verblüffend dabei ist: Wenn wir die Evangelische Kirche als einen heilungsbedürftigen Patienten betrachten, der möglichst bald wieder gesund werden soll, werden die Heilungswunder Jesu erstaunlich konkret. Und wie! Vor allem aber sind wir überzeugt: Die Kirche kann tatsächlich – wie die von Jesus Geheilten – krankmachende Strukturen und Entwicklungen überwinden und wieder eine Gemeinschaft werden, die die Erfahrung macht: »Dein Glaube hat dir geholfen!«
Ein derartiger Perspektivwechsel ist schon deshalb erlaubt, weil die Heilungsgeschichten Jesu zu allen Zeiten so ausgelegt worden sind, dass man in den beschriebenen Krankheiten etwas Grundsätzliches erkannt hat. Etwas, das für alle Menschen Gültigkeit besitzt, weil ja auch damals nur ein Bruchteil aller Menschen in den Genuss einer leibhaftigen Heilungserfahrung kam. Das bedeutet: Weil diese Erzählungen immer exemplarisch gedeutet wurden, gelten sie auch für unsere »Glaubensgemeinschaften«!
Das Irritierende an diesem Ansatz ist allerdings, dass wir damit behaupten, die Kirche habe Heilung ebenso nötig wie jeder einzelne Mensch. Und wir ahnen, dass man uns vorwerfen wird, unsere Kirche nicht wertzuschätzen. Aber das tun wir! Sogar mit großer Leidenschaft. Schließlich ist es kein Mangel an Wertschätzung, wenn man einen Patienten auf seine Beschwerden hinweist und mit ihm überlegt, wie er wieder gesund werden könne. Es ist ein Ausdruck von Fürsorge und Liebe.
Unsere kritischen Anfragen an manche heilungsbedürftigen Phänomene in der Evangelischen Kirche sind deshalb kein Angriff auf die vielen großartigen Dinge, die in unseren Gemeinden und Institutionen geschehen. Im Gegenteil: Wir möchten gerade die strukturellen Störungen in den Blick nehmen, die es dem vorhandenen Guten oft so schwer machen. Betrachten Sie unsere Ausführungen deshalb bitte als Anregung und nicht als Verriss. Wir haben keinerlei Interesse daran, uns einfach mal über diverse Krankheitssymptome unserer Kirche aufzuregen – es geht darum, miteinander herauszufinden, wie unsere Kirche gesund werden kann.
Schon zu Jesu Zeiten galt: Wunder durchbrechen die Realität. Darum rufen die Augenzeugen oftmals aufgeregt: »So etwas haben wir noch nie erlebt!« Wir, die Autoren dieses Buches, sind überzeugt, dass die meisten der im Neuen Testament überlieferten Wunder Jesu tatsächlich stattgefunden haben. Es ist aber kein Zufall, dass die Evangelien statt von Wundern lieber von »Zeichen« reden. Weil das, was Jesus an Kranken getan hat, zeichenhafte Bedeutung für alle Menschen hat. Und: Zeichen weisen über sich hinaus.
Darum greift die Frage »Sind die Wunder Jesu wirklich geschehen?« viel zu kurz. Gelegentlich führt sie sogar dazu, dass man sich mit ihrer Hilfe die eigentlichen Aussagen der Wundergeschichten geschickt vom Leib hält. Wenn man zum Beispiel vor lauter Spekulation darüber, ob Jesus wahrhaftig übers Wasser laufen konnte, gar nicht mehr fragt: »Kann dieser Jesus auch mir helfen, wenn mir das Wasser bis zum Hals steht?« Und: Kann er meiner Kirche helfen?
Weil Zeichen über sich hinausweisen, stehen die in den Heilungsgeschichten genannten Gebrechen auch nicht nur für einzelne Symptome, sondern für umfassende Krankheitsbilder: Was passiert, wenn Menschen nicht mehr richtig zuhören, nicht mehr hinsehen, wie gelähmt sind vor Angst oder sich innerlich wie tot fühlen? Und was kann man tun, wenn ganze Institutionen unter solchen Phänomenen leiden?
»Krankheiten« beschreiben dabei vor allem eines: eine Reduktion der eigenen Möglichkeiten, des eigenen Potentials und des Kontaktes zu anderen. Und da, wo Gott ins Spiel kommt, geht es darum, derartige Einschränkungen hinter sich zu lassen.
Verbunden mit dieser Beobachtung ist eine Verheißung: Gott möchte Unheil mit Heil überwinden. Böses mit Gutem. Liebloses mit Liebe. Ganz gleich, ob es dabei um Individuen, Gruppen oder ganze Institutionen geht. Wie Kirche ihre »Krankheiten« im Blick auf Jesus, den Heiler, überwinden kann – dem will dieses Buch auf die Spur kommen. Und es will Mut machen: Lasst uns wieder anfangen, an Wunder zu glauben. Schließlich wäre es phantastisch, wenn wir in den Ruf einstimmen könnten: »So etwas haben wir noch nie erlebt!«
Wir stellen Ihnen in diesem Buch zwölf markante Heilungsgeschichten Jesu vor, deren Erfahrungen sich überraschend unkompliziert auf die Evangelische Kirche übertragen lassen. Ja, oftmals ist in ihnen der Bezug zur Institution sogar schon angelegt. Und auch wenn jede dieser Heilungen in sich abgeschlossen ist, betonen sie doch unterschiedliche Schwerpunkte innerhalb eines Genesungsprozesses. Insofern versuchen wir mit der Abfolge unserer Kapitel ein wenig, die Phasen eines solchen Verlaufs abzubilden: Wir fangen mit den Wundergeschichten an, bei denen nach langer Krankheit ein dringend notwendiger Impuls für Veränderungsbereitschaft sorgt, betrachten dann, wie Jesus Krankheiten diagnostiziert und welche Therapien er anwendet, um abschließend zu klären, warum Glaube, Liebe und Hoffnung nach wie vor die beste Medizin sind.
Dabei verstehen wir unsere Auslegungen vor allem als Einladung: Lasst uns gemeinsam prüfen, wie wir die »Evangelische Kirche« – den »evangelischen Patienten« – wieder gesund bekommen. Wobei eines von Anfang an klar ist: Zur Gesundung braucht es die Mithilfe des Patienten. Denn wenn er eine Diagnose nicht an sich heranlässt oder die therapeutischen Hinweise nicht oder nur halbherzig befolgt, wird sich an seinem Zustand kaum etwas ändern, jedenfalls nicht zum Positiven.
Eigentlich ist es eine Binsenweisheit, dass Heilungsprozesse – gerade bei psychosomatischen Erkrankungen – nur in Gang kommen, wenn Menschen sich eingestehen, dass sie krank sind. So wie eine Entzugstherapie nie funktioniert, wenn ein Alkoholiker seine Abhängigkeit verleugnet. Es könnte sein, dass das für die Evangelische Kirche genauso gilt: Solange sie sich einredet, sie sei gesund und für die Einbrüche der vergangenen Jahrzehnte seien nur äußere Faktoren verantwortlich (die Säkularisierung, die Pluralisierung, die Krise der Institutionen usw.), braucht kein Arzt mit einer Therapie zu beginnen. Das, was am Leben hindert, muss benannt werden, um einen Gesundungsprozess einleiten zu können.
Deshalb