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Sechs Monate später musste sich Antonio eingestehen, dass er dem Jungen nichts mehr beibringen konnte, und suchte Maestro Giacomo Costa auf. Der dreißigjährige Genueser spielte die erste Geige bei Kirchenmusikstücken und schien Antonio genau der Richtige. Niccolò sollte ein angesehener Kirchenmusiker werden. Unter Costas Anleitung wuchsen Niccolò Flügel. Seine Finger füllten sich mit Leben –
was ihnen beim Unterricht seines Vaters nicht ganz gelungen war – ,
sie strafften sich, bogen sich. In seinen Fingerkuppen pochte wild das Blut, so dass sie wie Hämmerchen auf die Saiten niederstürzten. Sein linker Arm wuchs und wuchs und endete an der Spitze seines Geigenbogens. Im April 1791, knapp neunjährig, spielte er beim Gottesdienst das Konzert für Violine und Orchester Op. 17 von Pleyel. Von da an übernahm er Costas Rolle als erster Geiger bei Kirchenstücken. Antonio konnte seine Freude über den Erfolg nicht vollständig auskosten, denn noch kam kein Geld herein, außerdem beschwerte sich Giacomo Costa. Der Junge sei wohl begabt und unschlagbar in seinem musikalischen Ideenreichtum, sein Kopf allerdings, der sei nicht nur groß, er sei auch stur. Niccolòs Bogenführung sei haarsträubend und widersetze sich jeglicher seriöser Methode des Geigenspiels. Antonio versprach Costa, den Jungen mit ein paar Backpfeifen zur Vernunft zu bringen. Vermutlich sei ihm der Erfolg in seinen großen Kopf gestiegen.
Als er am späten Nachmittag zu Hause eintraf und Niccolò folgsam beim Geigenüben vorfand, milderte sich die unterwegs angestaute Wut keinesfalls, nein, sie steigerte sich noch, da er nicht begriff, was an Niccolòs Bogenhaltung falsch sein sollte. Seine Geige zeigte in spitzem Winkel nach unten, als sei ihr Steg ein Opfer der Erdanziehung, und sein rechter Arm, der den überlangen Bogen führte, streifte dabei fast seinen Körper. Was konnte an einer Haltung falsch sein, die so kraftvolle, reine Töne produzierte?
„Leg dein Instrument weg!“, herrschte er den Jungen an. Verständnislos starrte der Kleine auf den Vater. Was ist geschehen, dass der Vater das Gegenteil von dem wünschte, was er üblicherweise mit strengster Härte verlangt, schien er sich zu fragen. Kaum lagen Geige und Bogen sicher auf der wurmstichigen Kommode, machte Antonio zwei dröhnende Schritte und schlug Niccolò schallend auf die rechte Wange. Sein Kopf flog nach links, da schlug Antonio noch mal so kräftig auf die linke Wange. Der Kopf flog nach rechts.
„Ich hab alles richtig gemacht!“, stotterte der Kleine zwischen den Ohrfeigen.
„Du wagst es, mich anzulügen?“ brüllte der Vater. Sein Zorn war nun aufs höchste angestachelt. Heftig atmend packte er den Jungen, riss ihm die Hosen herunter und drosch auf den armen, dürren Hintern ein, bis dieser so krebsrot war wie Niccolòs Gesicht in Zeiten des Scharlachfiebers und bis Teresa rasend vor Empörung ins Zimmer stürzte.
„Francesco Antonio Paganini, warum verprügelst du unseren armen Sohn so schrecklich? Was hat er getan, dass du ihn klopfst und drischst wie Waschweiber ihre schmutzige Wäsche am Waschtag?“
„Er führt den Bogen falsch und wirft sich damit Steine in den Weg einer erfolgreichen Zukunft.“
„Ich halte ihn richtig“, krächzte der Sohn, worauf Antonio zu neuen Schlägen ansetzte. Teresa warf ihren kleinen, doch korpulenten Körper zwischen die beiden und zeterte dabei ohrenbetäubend. Wie ein Schutzwall baute sie sich vor ihrem Kind auf. Sie schleuderte Antonio Schimpfwörter, untermischt mit Fragen und Klagen, ins Gesicht. Antonio erreichte Niccolòs Hintern nicht mehr und hätte auf seine Frau dreschen müssen, was ihm seine Erziehung untersagte. In seiner Familie wurden Frauen nicht geschlagen. Inzwischen hatte sich Niccolò in eine enge Nische im Treppenhaus geflüchtet, wo ihn Antonio nicht fassen konnte.
„Was ist an Niccolòs Bogenführung falsch?“, schrie Teresa.
„Weiß ich nicht!“, schrie Antonio zurück, während er den Kleinen mit den Augen suchte.
„So ein Unsinn! Wer sagt, sie sei falsch?“
„Costa sagt es und Costa weiß es. Und ich will, dass der Junge spielt, wie es Costa verlangt.“
„Warum soll der Junge anders spielen als er spielt, wo er doch besser spielt als alle Schüler Costas, die so spielen, wie es Costa verlangt? Seid ihr denn alle dümmer als ich? Ihr, die ihr lesen, schreiben und rechnen könnt!“
„Halt den Mund, Weib! Du verstehst nichts.“
„Mein Herz versteht mehr als dein gelehrter Kopf. Wenn du den Jungen noch einmal schlägst, zerschlage ich die Geige an deinem gelehrten Kopf. Dann kann er die Geige weder falsch noch richtig halten.“
Der Ärger über sein Weib, gepaart mit dem Ärger über Niccolò, trieb ihn aus dem Haus. Er ging zum Landungsquai. Eine elende Gegend. Egal. Sie entsprach seinem momentanen inneren Zustand. Missgestaltete Häuser standen dicht gedrängt, verwahrlost und armselig. An den offenen Fenstern hingen schlammfarbene Kleidungsstücke zum Trocknen und aus den Wohnungen strömte modriger Geruch, der sich in den gewaschenen Kleidern festsetzte. Antonio strebte die Makkaroni- und Polentastände an, wo er Giorgio Servetto zu treffen hoffte. Seit in Frankreich der radikale linke Flügel der demokratischen Partei herrschte und vielen Adeligen, ob gut oder böse, die Guillotine drohte, nagten leise Zweifel an Giorgios Gesinnung. Er fürchtete, Fillipo Buonarotti beabsichtige, Italien auf ebenso blutrünstige Weise zu revolutionieren. Und so grübelte der einstige Musikstudent darüber, ob er nicht das schwierige Geschäft der Revolution anderen überlassen und in aller Ruhe sein früheres Leben wieder aufnehmen sollte. Heute als Hafenarbeiter, morgen als Geigenlehrer oder auch als Polenta- oder Fischverkäufer.
Der junge Servetto saß auf dem Boden hinter einem Polentastand und starrte gedankenverloren an den flatternden, Staub und Dreck verteilenden Tauben vorbei, die ihre Schnäbel gierig in die Fleischabfälle stießen, als er plötzlich Antonio erkannte. Er grüßte ihn und winkte ihn heran.
Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander und betrachteten das rege Treiben. Die Händler feilschten mit krächzenden Stimmen oder zeterten unzufrieden einem davoneilenden Kunden nach. Giorgio war wie es den Anschein hatte, nicht zum Arbeiten hier. Er grübelte und träumte, nebenbei teilte er Antonio seine Bedenken mit.
„Irgendwie möchte ich weiterhin unserer Sache dienen, denn auch ich wünsche die Fremdherrschaft zum Teufel. Allerdings muss das Ganze besser organisiert werden und darf nicht in ein Blutbad ausarten. Bis jetzt sind wir ein Haufen unzufriedener Intellektueller, Bürger, verbitterter Adeliger, Landarbeiter und hie und da stößt sogar ein Priester dazu. Das genügt nicht. Uns fehlt eine gemeinsame solide Basis und Hilfe in den maßgebenden Parteien. Wir haben noch nicht einmal einen Namen.“
Antonio antwortete nicht. Seine Augen schweiften über die farbige Vielfalt von Gesichtern und vertieften sich in den Anblick eines jungen Mädchens.
„Wie wäre es, wenn du dich nach einer jungen Frau umsähest, Giorgio? Du bist dreiundzwanzig und solltest an eine Familie denken!“, sagte er unvermittelt.
„Mit meinen unsicheren Einkünften?“
„Arbeite wieder als Geigenlehrer. Das bringt was ein. Du spielst doch ordentlich Geige, oder?“
„Ich habe sie zehn Jahre lang gelernt und kenne mich aus.“
Sein Satz lieferte Antonio das Stichwort und dieser konnte seine Frage stellen, wobei er mit funkelnden Augen auf den Sohn schimpfte. Kaum hatte er Luft abgelassen, richtete sich Giorgio auf und zwinkerte Antonio von oben herab zu. Warum er nie daran gedacht habe, ihn als Lehrer einzustellen, wollte er wissen.
„Weil du Geld brauchst, und ich dich teuer bezahlen müsste. Costa macht es fast umsonst, da er Niccolò für eine Sonderbegabung hält, die unbedingt gefördert werden muss. Aber genug davon! Beantworte mir meine Frage.“
„Bene!“ Giorgio zwinkerte. „An der Bogenführung ist nichts falsch, Antonio!“ Er fischte Tabak aus der Hosentasche, zerrieb ihn auf dem Handrücken und zog ihn durch die Nase. Bevor er weiter sprach, atmete er tief durch. „Lass den Jungen einfach in Ruhe. Wie es aussieht, schwört sein Lehrer Costa auf die französische Methode, weil der Geiger dabei ein elegantes Bild abgibt und sie vom berühmten Sevcik zum Nonplusultra erhoben wurde. Angeblich