Paganini - Der Teufelsgeiger. Christina Geiselhart. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Geiselhart
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная психология
Год издания: 0
isbn: 9783708105222
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auf seiner Stirn wie ein Staubwedel über einem Möbelstück. Seine Augen glänzten, ja sprühten Funken. Und seine fleischige Nase bebte. War er wütend, weil ich mich ungebeten an seinen Musikstücken zu schaffen machte? Jählings unterbrach ich mein Spiel, verbeugte mich und flüsterte verlegen: „Buon giorno, Signore, mi scusi!“ Er antwortete nicht. Er prüfte mich mit seinen glitzernden Augen. Lange verharrte sein Blick auf meinen Händen, streifte dann über meinen Arm in mein Gesicht.

      „Als ich die ersten Töne hörte, sprang ich aus meinem Bett. Signora Rolla sagte, im Zimmer warte ein Zwölfjähriger, der bislang wenig in der Geige unterrichtet worden sei. Nach dem, was ich hier hörte, scheint mir das unmöglich.“

      „Ist es auch!“, befleißigte sich Papà zu sagen. „Ich unterrichte den Jungen schon seit Jahren.“

      Rolla musterte meinen Vater sehr kritisch. Seine Nasenflügel bebten und ein Anflug von Zornesröte färbte jäh das kranke Gesicht.

      „Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sie der Urheber dieses Talentes sind, Signore!“

      „Ach?“ Padres Mundwinkel verzogen sich deutlich nach unten. „Jedenfalls würde es diesen Jungen ohne mich gar nicht geben.“ Innerlich kochte er vor Wut. Gott sei Dank nahm es außer mir keiner wahr. Ich hoffte für Vater, Signore Rolla forderte ihn nicht zum Spielen auf. Meine Hoffnung erfüllte sich. Rolla reagierte nicht auf Vater, sondern sah mich ergriffen an.

      „In deinen Augen glüht die Musik! Sie glüht in deinem Körper und befähigt dich zu unglaublichen Dingen. Niemand kann dir beibringen, was dir der Himmel geschenkt hat. Wir armseligen Sterblichen können dich nur fördern und vervollkommnen.“ Seine Nase hatte aufgehört zu zittern. Mit einer heftigen Kopfbewegung schleuderte er die dichte Haarsträhne aus der Stirn und wandte sich erneut an meinem Vater.

      „Dieser Junge braucht meine Hilfe nicht. Er handhabt die Violine wie kein anderer. Wo es noch ein wenig mangelt, ist im Kontrapunkt. Schicken Sie ihn unbedingt zu Maestro Ghiretti, Violonist bei Hofe und berühmtester Kontrapunktist unseres Landes.“

      Vater hörte die Worte „herzoglich“, „berühmt“, „Violonist bei Hofe“ und schlug mechanisch die Hacken zusammen. Er war kein Kriecher, mein Vater, aber der Glanz des Ruhmes und des Geldes ließen den düsteren Menschen leuchten wie eine Laterne und bewirkten Wunder der Freundlichkeit.

      „Mein Sohn ist also tatsächlich sehr begabt?“

      „Begabt?“, schrie Signore Rolla auf, als habe man ihn gegen das Schienbein getreten. Er hob die Augenbrauen, bis sie in seinem Haaransatz verschwanden. „Er ist ein Genie, mein Herr! Da!“ Er hielt Vater die Partitur unter die Nase. „Da, prüfen Sie meine unleserliche Notenschrift. Der Junge störte sich nicht daran, im Gegenteil, er spielte, als habe er das Konzert selbst geschrieben.“ Bei den Worten wandte er sich an mich: „Ich rate dir übrigens, ein paar Stunden Kompositionslehre beim Hofkapellmeister Paër zu nehmen.“

      Papa stand herum wie eine unvollendete Statue Michelangelos. Sein Mund klappte nach unten, die Haare klebten an seinem Kopf, die Augen quollen hervor. War er schon wieder verärgert?

      „Stehen Sie nicht so lange untätig herum, Signore. Der Junge ist ein Genie, aber hat noch viel zu lernen. Vor allem in Harmonik.“

      Wir blieben einige Monate in Parma. Während ich dreimal wöchentlich Harmonik bei Gasparo Ghiretti studierte und nebenbei dank Maestro Paër das Komponieren lernte, spazierte Vater durch die Stadt, wo er vermutlich seinen üblichen Geschäften nachging: Einkauf, Verkauf, Kartenspiel und Glücksspiel. Rolla hatte uns eine Herberge unweit vom Marktplatz empfohlen. Hier war es still und beim Üben blickte ich auf den Dom. Er inspirierte mich zu manchen Höhenflügen, Arabesken weit unten am Steg, Sprüngen mit dem Bogen, Zupfvarianten. War Vater unterwegs, wagte ich die kühnsten Schritte. Ich überlegte auch, wie ich die unterschiedlichsten Kunstgriffe mit zwei Händen bewerkstelligen konnte. Meine großen Hände und ihre außerordentliche Beweglichkeit erlaubten es mir, mit der linken Hand zu zupfen, sodass ich gleichzeitig den Bogen führen konnte. Wundervoll wie sich mein Daumen bis zur Handfläche biegen ließ. Das alles hörte sich noch ein wenig kläglich an, aber mit viel Übung würde es mir vortrefflich gelingen.

      Hin und wieder fiel mir der Bogen aus der Hand. Meine Finger zitterten, mein Körper bebte und meine Zähne klapperten. Dann schwitzte ich und Vater meinte, ich hätte Fieber. Aber ich war nur erschöpft. Sein grimmiges Aussehen milderte sich bei meinem elenden Anblick. Er sagte, ich sehe so gespenstisch aus wie eines der marmornen Ungeheuer auf den steinalten Gemäuern des Marktplatzes. Dann nahm er mich bei der Hand und meinte spöttisch:

      „Komm, ich zeig sie dir!“

      „Ich will sie nicht sehen!“

      „Dann zeig ich dir etwas anderes, aber gehen wir an die Luft.“

      Er führte mich eine Weile kreuz und quer durch belebte Straßen bis wir zu einer seltsamen Kirche gelangten. Ihr Dach wurde von Marmorsäulen getragen und wollte man die Kirche betreten, schritt man sozusagen in die Erde hinein. Aber was für ein Publikum erwartete uns dort? In jedem Winkel hockte ein zerlumpter Mann oder eine verschrumpelte Frau, hinter jeder Säule kauerte ein Gespenst, und sobald wir uns näherten, erhoben sie sich und schlurften auf uns zu. Aber sie kamen nicht allein. Jeder schleppte einen Krüppel zum Betteln hinter sich her. Erschreckend sahen sie aus. Menschen mit Wasserköpfen, eitrigen Geschwüren im Gesicht, zahnlos, hinkend, übelriechend. Mir wurde erneut schwindelig. Warum führte mich Vater hierher?

      „Lass uns gehen, schnell!“, verlangte ich und zerrte an seinem Mantel.

      Wir gingen zurück. Langsam, mit offenen Augen für die heiteren Straßen und tief durchatmend. Vater meinte, ich solle mehr essen und besser atmen, ich sähe ja aus wie ein Nachtschattengewächs.

      Bevor wir zum Essen ins Wirtshaus traten, zeigte er mir die Taufkapelle. Dort fühlte ich mich wieder besser. Ich betrachtete die schöne Gemäldesammlung des Gottestempels und beobachtete die bärtigen Künstler, die einige der Werke zu kopieren versuchten.

      Wir verbrachten den Winter in Parma. Vater telegrafierte Carlo, er solle sich gut um die Familie kümmern und Mama sagen, dass ich mich gut entwickele, leider aber noch immer dünn wie ein Spaten sei. Carlo telegrafierte zurück, ihm gehe bald Vaters Geld aus, Niccolò aber solle kräftiger essen und weniger üben, denn würde ich verhungern, sei alle Mühe umsonst gewesen. Vater warf das Telegramm wütend auf den Boden.

      Ich ging fleißig zu Fernando Paër wegen der Kompositionslehre, denn davon versprach ich mir sehr viel. Und dank Ghiretti fiel mir auf, was für eine außerordentliche Null im Kontrapunkt ich doch war. Ich musste noch tüchtig an mir arbeiten, um vollkommen zu werden. Nur manchmal und auch nur, wenn Vater in der Stadt unterwegs war, legte ich die Geige weg und lehnte am Fenster. Der Marktplatz war wie ausgestorben und hatte ich im Herbst noch Vogelstimmen gehört, so lag jetzt eine gläserne Stille über allem. Selbst der Wind heulte nicht mehr in den Winkeln und Nischen der Häuser. Und diese äußere Stille, die an die unheimlich Ruhe auf dem Land im ersten Morgengrauen denken ließ, wurde in meinem Kopf zu einem Konzert. Ich lauschte in mich hinein und vernahm viele unterschiedliche Melodien. Manche hatten einen kantiblen Charakter, andere wiederum machten Bocksprünge, andere klangen wie verstimmte Geigen. Ich hörte sie ganz klar, spürte ihnen nach, ergriff sie, ließ sie reifen. Reifen, saftig werden, zu einem enormen Klanggebilde wachsen, das meine Brust zerriss. In dem Augenblick stürzte ich auf die Musikhefte und goss die Musik in meinem Inneren aufs Papier. Danach ging es mir sehr gut, dennoch erschrak Vater jedes Mal über mein Aussehen, wenn er zurückkam. Und schnell ging es wieder hinaus ins Freie, egal wie kalt die Luft zum Atmen war. Er zeigte mir den Palazzo della Pilotta, vermutlich weil er glaubte, ich müsse mich auch an Theaterluft gewöhnen. Wo er mich jedoch hinführte, stank die Luft nach Moder und schmeckte sie nach Erde. Feucht, klamm, wie erstarrt, so fühlte es sich an, in diesem verlassenen Theater. Auf den verschimmelten Sitzplätzen lungerten Ratten und die Bretter der Bühne glänzten schmierig. Wie beim letzten Mal, in der unterirdischen Kirche, zog ich ihn am Mantel und zerrte ihn hinaus. Ich fühlte mich einsam, heimatlos und Orte wie diese vertieften die Trauer in meinem Herzen. Dann sehnte ich mich besonders nach meiner Geige. Sobald wir zurück in unserem Zimmer waren