»Die habe ich frisch eingepflanzt!«, brüllte da auch schon jemand los.
Nele drehte sich um. Aus der Haustür trat eine Frau mit langem schwarzem Haar und funkelnden dunklen Augen. Frau Wu! Oje, das gab jetzt aber Ärger!
»Entschuldigung!«, rief Nele. »Das war keine Absicht.«
Frau Wu kam mit strammen Schritten näher. »Davon werden die armen Blumen auch nicht wieder heil. Das werde ich deinem Vater erzählen, Nele Marie Wolf!«
»Ich bezahl’s von meinem Taschengeld«, presste Nele hervor.
»Hör lieber mal auf, mir die Petunien von der Fensterbank zu kicken oder mich umzufahren, wenn ich Einkaufstüten trage«, erwiderte Frau Wu. »Das würde reichen.«
Neles schlechtes Gewissen wurde größer – auch wenn das schon etwas unfair von Frau Wu war. Das klang ja fast, als würde Nele absichtlich ständig solche Dinge machen. Dabei waren das bloß ein paar Unfälle gewesen, weil sie zu stürmisch war.
»Ich versuch’s. Auf Wiedersehen«, sagte Nele höflich und drehte sich um.
Hoffentlich stand Frau Wu später nicht wirklich bei ihnen auf der Matte, um sich über sie zu beschweren. Das war nämlich schon passiert – auch wenn sie Neles Papa recht gern zu haben schien und nach einer Tasse Kaffee wieder besänftigt war.
Luis hatte Neles Rad inzwischen aufgestellt und sie nahm es ihm ab. Beim Schieben eierte der Vorderreifen so schlimm, dass sie sich fühlte, als würde sie auf Treibsand damit laufen. Verflixt! Das setzte allem echt die Krone auf …
»Woher kennt Frau Wu eigentlich deinen zweiten Namen?«, fragte Luis.
Nele warf einen nachdenklichen Blick zurück. »Frau Wu weiß seltsam viele Dinge.«
Beim Weitergehen begann die Schramme an ihrem linken Ellbogen plötzlich, höllisch zu brennen, und sie verzog das Gesicht. Zum Glück war sie sonst okay.
Luis musterte sie besorgt. »Geht’s?«
»Ich bin vom Fußball Schlimmeres gewohnt«, antwortete Nele. Vom letzten Spiel hatte sie noch immer einen dicken blauen Fleck am Schienbein. »Aber mein Rad …«
»Ja, das sieht echt übel aus«, sagte Luis mitfühlend. »Vielleicht kann dein Papa es reparieren?« In seine Augen trat ein verträumter Glanz, wie kleine Funken von Abenteuerlust. »Ich meine, der ist jetzt irgendwo da draußen und tut … gefährliche Dinge! Ein verbogenes Rad kriegt der mit verbundenen Augen hin.«
Die Vorstellung von ihrem Papa mit Augenbinde und Werkzeug heiterte Nele sofort auf. Warum Luis so unbedingt auch mal was Aufregendes erleben wollte, war ihr allerdings schleierhaft. Zusammen mit vier Schwestern unter einem Dach zu leben, erschien ihr schon abenteuerlich genug. Luis hatte eine Schwester für jede Gelegenheit – und Nele? Einen Papa, den sie mit seinem Job teilen musste.
»Was glaubst du, macht er gerade? Ist er vielleicht …«
»Psst!«, unterbrach Nele ihn. »Wir reden nur im Clubhaus über so was.«
»Natürlich!« Luis’ Gesicht wurde ernst. »Ich habe feierlich geschworen, die Geheimnisse deiner Familie zu wahren! Bis zum Planeten Zorkaja und noch weiter!«
Nele lachte. »Du redest manchmal nur Unsinn.«
»Hey! Das ist aus ›Die Rückkehr der Sternenpatrouille‹.«
Bei dem schmalen Haus mit der Nummer dreizehn hielten sie an. Nele und ihr Papa lebten schon viele Jahre in der Lilienstraße in Kumpferberg und seit ihrem Einzug damals hatte sich an den Backsteinhäusern und gepflegten Vorgärten nicht viel verändert. Auf den Stufen vor ihrem Haus saß wie jeden Tag, wenn Nele heimkam, Caroul, der dicke weiße Kater der Schuhmanns von schräg gegenüber. Herr Schuhmann und seine Tochter Kira sahen nach Nele, wenn ihr Papa unterwegs war. Doch heute würde das nicht nötig sein, denn …
Das schwarze Auto dort kannte Nele nur zu gut: Ihr Papa war wieder da!
Kapitel 2
»Luis, sieh mal!«, sagte Nele.
Vor lauter Vorfreude konnte sie nicht mehr still stehen. Sie lehnte ihr Rad gegen den Gartenzaun, scheuchte Caroul von den Stufen und kramte ihren Schlüssel hervor. Ihr Herz machte einen Salto, als sie den blauen Koffer im Flur sah.
»Papa! Ich bin zu Hause. Wo bist du?«
Neles Blick huschte zur Küche, aber die war leer. Sie lief zum Wohnzimmer und bemerkte die offene Terrassentür. Aus dem Garten drang ein komisches Geräusch …
»Ob er oben ist?«, wunderte sich Luis, der ihr gefolgt war.
»Ich weiß nicht«, sagte Nele. »Aber hörst du das auch?«
»Vielleicht hat dein Papa sich in einen Raben verwandelt«, scherzte Luis. Doch er hörte sich genauso unsicher an, wie Nele sich fühlte. »Sollen wir … mal nachsehen?«
»Ja«, murmelte Nele. »Ein Einbrecher wird wohl kaum so einen Lärm veranstalten.« Zur Sicherheit schnappte sie sich trotzdem den alten Besen aus der kleinen Vorratskammer der Küche. Bewaffnet und mit Luis dicht hinter sich, ging sie vorsichtig zum Garten.
Dort blieb sie verdutzt stehen. »Da ist ein Mädchen.«
»Was tut sie denn da?«, fragte Luis perplex.
»Ich weiß auch nicht … sie sieht aus wie Rapunzel, oder?«
Das besagte Mädchen trug ein altmodisch aussehendes Kleid mit langen Ärmeln, obwohl es ungefähr im selben Alter wie Luis und Nele sein musste. Seine goldglänzenden Haare waren wirklich so lang wie bei einer Märchenprinzessin. Und barfuß war das Mädchen auch. Eines seiner Spitzenschühchen hielt es in der Hand, das andere schien zu fehlen.
Rapunzel führte einen kuriosen Tanz auf, wenn man das so nennen konnte. Hopsend und mit den Armen fuchtelnd, machte sie Krächzgeräusche, als würde ihr was im Hals feststecken.
Nele ließ den Besen sinken und starrte sie an.
Und dann bemerkte Rapunzel sie auch. Sie wirbelte wie eine Ballerina um ihre eigne Achse und würgte wieder einige dieser Krächztöne heraus, und als die Blicke der beiden sich trafen, fing sie erschrocken an zu kreischen.
»Oh, du murksiges Makra! Ein Schlammgnom! Bleib weg von mir!«
»Was?«, entfuhr es Nele automatisch.
Zur Antwort warf das Mädchen seinen Schuh nach Nele, und da die viel zu perplex war, um zu begreifen, was geschah, traf das kitschige Ding sie genau an der Schulter.
»Aua!« Nele rieb sich die schmerzende Stelle. »Was soll das?«
»Hör auf, mit mir zu sprechen, Schlammgnom!«, stotterte die Fremde.
»Was soll ich denn sonst tun? So komisch krächzen wie du?«, fragte Nele.
Sie machte große Augen. »Krächzen? Das war Kakelon! Eine aussterbende Sprache, die nur die allerwenigsten in Marabel noch beherrschen«, sagte sie empört.
Neben ihr unterdrückte Luis ein Prusten. »Kakelon!«, jauchzte er.
»Ich hab eine Meise!«, sagte Rapunzel. »Helft mir doch.«
Die hatte sie wirklich, dachte Nele. Eine absolute Vollmeise!
»Wer bist du überhaupt und was machst du in unserem Garten?«, fragte Nele.
Sie ignorierte Neles Fragen, wandte sich wieder dem Baum zu und zeigte mit dem Finger auf einen der Äste, wo tatsächlich eine kleine Meise saß. »Die Meise muss mir gefolgt sein. Sie muss verschwinden, ehe sie was aufschnappt. Tu doch was!«
Nele runzelte genervt die Stirn. »Gefolgt? Hör auf mit dem Blödsinn!«
»Das ist bitterer Ernst«,