Bevor Chaco mit einem Fausthieb in den Dreck schicken konnte, spulte Jerome Bibbs sein Programm ab. Er ließ sich zur Seite fallen, riss seinen Revolver aus dem Holster und feuerte im selben Moment. Erst aus Chacos Reaktion erkannte er, dass er schon sehr lange keinem Mann von Angesicht zu Angesicht mit der Kanone gegenübergestanden hatte. Er hatte sich in letzter Zeit auf Schüsse aus dem Hinterhalt spezialisiert. Deshalb war er es nicht mehr gewöhnt, dass sich sein Opfer bewegte. Dass es sich allerdings so schnell bewegte, hätte er ohnehin nie für möglich gehalten. Eben noch der mörderischen Klinge nur um Haaresbreite entgangen, retteten Chaco seine Reflexe zum zweiten Mal.
Und die gleichen Reflexe zauberten auch dem Halbblut seinen Peacemaker in die Faust. Eine einzige Feuerzunge tanzte vor der Mündung, dann steckte Chaco seinen Revolver ins Holster zurück.
Die Männer vor dem Post Office näherten sich zögernd. Sie nahmen keine feindliche Haltung ein.
„Der Kerl hat Glück gehabt, dass Sie nicht richtig getroffen haben, Mister“, stellte der eine fest. „Der hätte die Kugel in seine Rübe verdient und nicht nur im Arm. Wir haben genau gesehen, dass er zuerst gezogen hat.“
„Und vorher die Sache mit dem Messer war auch nicht unbedingt ein Beweis für seine freundlichen Absichten“, ergänzte ein anderer.
„Sie müssen ihn ziemlich geärgert haben.“
Chaco nahm die Waffe des Angeschossenen an sich. Er hatte zwar Jerome Bibbs Rechte getroffen, aber er wusste, dass dieser sich für seinen Rücken interessieren würde, solange er seine Linke noch benutzen konnte.
„Ich habe richtig getroffen“, behauptete er. „Sein Kopf hat mir nichts getan. Dafür hat er zu wenig drin. Sein Arm hat mich hinterrücks umbringen wollen, also hat auch er die Strafe verdient. Alles weitere überlasse ich dem Marshal. Ich würde mich freuen, wenn Sie vor ihm Ihre Beobachtungen wiederholen würden. Es wäre ein erster Schritt, um der Schattenbande das Handwerk zu legen.“
Die drei prallten zurück.
„Die Shadows! Hören Sie, Mister, mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Wir haben schließlich Familie. Wissen Sie, was mit Mitch Roller passiert ist, der sich gegen die Banditen gestellt hat?“
Chaco seufzte. Etwas Ähnliches hatte er erwartet. Diese arbeitsscheuen Burschen hatten auch den Mut nicht gerade aus Eimern geschluckt. Bei einer zünftigen Prügelei endete ihre Courage.
„Er wurde erschossen, soviel ich gehört habe.“
„Genau. Und darauf haben wir überhaupt keinen Appetit.“
„Aber ihr habt doch einen Marshal. Traut ihr dem nicht zu, dass er euch vor den Killern schützt?“
Die drei lachten zweifelnd.
„Collin Brat kann nicht überall sein. Besonders nachts. Wir geben Ihnen einen guten Rat, Mister. Sehen Sie zu, dass Sie Ihren Gaul unter den Hintern kriegen, und dann reiten Sie los. Und bleiben Sie nicht stehen, bevor Sie in Minnesota angekommen sind.“
„Das ist ein ziemliches Ende.“
„Das ist es. Aber es lohnt sich, wenn man dafür am Leben bleibt.“
„Das ist auch wieder wahr. Allerdings habe ich die Absicht, noch für ein Weilchen hierzubleiben und mich trotzdem meines Lebens zu erfreuen.“
„Dann beeilen Sie sich damit. Sie werden nicht mehr lange Gelegenheit haben, falls Jerome wirklich was mit den Shadows zu tun hat.“
„Seine Art und Weise zu kämpfen spricht zumindest dafür“, fand Chaco und sah dabei den Mann an, der langsam wieder auf die Füße kam.
Jerome Bibbs stöhnte. Die Kugel des Halbindianers war in seinen rechten Unterarm gedrungen. Falls er nicht ein ausgesprochener Beidhänder war, würde es lange dauern, ehe er wieder annähernd schnell einen Revolver ziehen konnte.
„Dafür beißt du ins Gras, Bastard“, versprach er zornbebend. „Das verspreche ich dir.“
„Man sollte nur Versprechen geben, die man auch halten kann“, rügte Chaco. „Du wirst keinen mehr ins Gras beißen lassen, denn Blicke können ja bekanntlich nicht töten.“
„Sei nicht so sicher, Großmaul! Dein Todesurteil ist gesprochen. Wenn du noch irgendwo ein Weibsbild kennst, dann verabschiede dich von ihr. Du hast nicht mehr lange Gelegenheit dazu.“
„Du wirst lachen, ich nehme deine Warnung verdammt ernst, Shadow. Aber ich habe dir auch etwas zu sagen. Dir und deinem unsichtbaren Boss. Ich wollte eigentlich nicht lange in Gibsonville bleiben. Aber inzwischen habe ich mich so sehr an die Luft hier gewöhnt, wenn sie auch ein bisschen stark nach Blei duftet, dass ich nicht eher weiterreite, bevor die Schattenbande der Vergangenheit angehört.“
„Dass du nicht weiterreiten wirst, nehme ich dir sogar ab“, erklärte Jerome Bibbs finster. „Diese Anstrengung wirst du nicht nötig haben, denn sie werden dich aus der Stadt tragen. In einer langen Kiste. Die ist nicht sehr gemütlich, für dich aber genau das richtige, Bastard.“ Er drehte sich um. Er wusste, dass der Halbindianer ihn nicht in den Rücken schießen würde. Nach einigen Schritten bückte er sich und hob sein Messer auf. Einen Moment zögerte er, ob er einen zweiten Wurf riskieren sollte, doch diesmal verstand er die Warnung in Chacos Augen richtig. Er versenkte die Klinge im Stiefelschaft und schlich sich davon. Bevor er zu Collin Brat ging, musste er noch Doc Bishop aufsuchen.
18
Collin Brat hielt es an der Zeit, Andie Morton endlich einzusperren. Er hatte lange genug gewartet. Seine Leute hatten es geschickt verstanden, gegen den Cowboy Stimmung zu machen, dass die Bürger von Gibsonville fast forderten, den Verdächtigen endlich vor Gericht zu stellen. Genau das hatte er immer gewollt. Nur gehörte der Richter leider nicht zu seiner Mannschaft, und es war durchaus nicht erforderlich, dass Morton alles mögliche dumme Zeug plapperte. Er hatte Jerome offen verdächtigt, vielleicht hegte er noch gegen andere Mitglieder der Bande Verdacht. Und wenn ihn das auch vor der Verurteilung kaum retten würde, so war es doch nicht gut, wenn zu viele Namen genannt wurden, die besser unverdächtig blieben.
Die Sache musste also anders laufen. Keine Gerichtsverhandlung, kein Richter, kein Verhör, kein Verdacht. Und trotzdem würde Andie Morton sterben, und jeder würde sagen, dass er sich das selbst zuzuschreiben hatte und dass es über seine Schuld nun keinen Zweifel mehr gab.
Man würde ihn erschießen. Auf der Flucht erschießen. Das war ganz einfach und löste eine Menge Probleme auf elegante Weise.
Collin Brat hatte sich einen Deputy ausgesucht, der jeden irgendwann aufkeimenden Verdacht sofort von ihm nehmen musste. Ken Turner war ein Mann, wie er ihn sich nur wünschen konnte. Naiv, ehrgeizig, gottesfürchtig und beliebt bei allen Bürgern von Gibsonville, von Hass gegen die Schattenbande erfüllt und nach der Berufung zum Deputy derart von der Ehrenhaftigkeit seines neuen Bosses überzeugt, dass er bedenkenlos für ihn durch die Hölle gehen würde.
Dass Ken Turner nicht zu den Shadows gehörte, verstand sich von selbst. Collin Brat wusste, dass er keinen größeren Fehler machen konnte, als in der Öffentlichkeit zu große Sympathie zu seinen Kumpels zu zeigen.
Ken Turner war ein einfacher Cowboy. Er war stark und verstand, mit der Schusswaffe umzugehen. Aber der Marshal fürchtete diese Eigenschaften nicht. Im Gegenteil! Er würde sie gut gebrauchen können. Schließlich wollte er es nicht selbst sein, der Andie Morton auf der Flucht erschoss.
Mit Geschick hatte er den Boden vorbereitet. Er merkte, dass die Saat aufgegangen war, als Ken Turner ihn mahnte: „Wie lange willst du Morton noch frei herumlaufen lassen, Collin? Die Männer draußen werden schon ungeduldig. Sie sagen, dass du dich vor der Schattenbande fürchtest.“
„Wer sagt das?“, fragte Collin Brat mit gespielter Empörung.