In diesem Moment ertönte ein Geräusch, so als würde sich etwas Schweres über das Eis schieben. Aus dem Dunst schälte sich ein zunächst formlos erscheinender, riesenhafter Schatten – das Kopfende eines Leviathans. In einem Abstand von zwei Schiffslängen schien er Richtung Süden an dem Speerstein vorbeiziehen zu wollen, und es war anzunehmen, dass er bis zum lippenlosen Maul mit Wollnashornreitern und untoten Kriegern gefüllt war. Auf seinem Rücken liefen winzig erscheinende Torheimer Armbrust- und Bogenschützen herum, vermutlich ebenfalls Untote, und an den Seiten wurde der Wurm von einzelnen orxanischen Wollnashornreitern flankiert. Keiner von ihnen machte irgendwelche Anstalten, sich in den bevorstehenden Kampf am Speerstein einzumischen.
Dann aber, als der Leviathan schon eine halbe Kopflänge am Stein vorbeigekrochen war, kam der Zug des Grauens wie auf einen stummen Befehl hin zum Stillstand. Die Wollnashornreiter hielten ihre Tiere an, und die untoten Armbrustschützen positionierten sich so auf dem Rücken des Leviathans, dass sie Gorian und den Caladran gut in Blick hatten, so als wollte sich keiner von ihnen das Schauspiel am Speerstein entgehen lassen.
Der Caladran machte eine großspurige Geste. „Du siehst, mein Heer erwartet mich. Ich soll es nach Süden führen. Es wird also Zeit, dass ich den mir angeborenen Spieltrieb etwas im Zaum halte und die Sache beschleunige.“ Er kicherte erneut, aber diesmal ging sein Kichern in einen knurrenden, fast raubtierhaften Laut über.
Gorian hatte sich längst wieder erhoben, hielt den Rächer, von dessen Klinge noch sein eigenes Blut troff, zitternd in der einen Hand und in der anderen sein Schwert. Die Wunde an der Schulter verursachte einen pulsierenden, sich allmählich über den ganzen Körper ausbreitenden Schmerz.
Der Caladran streckte die Hand aus und entriss Gorian mit seiner unwiderstehlichen Kraft das Schwert. Es flog durch die Luft, drehte sich mehrmals um seinen Schwerpunkt, und der Griff landete schließlich genau in der Handfläche von Gorians Widersacher. „Na los, greif mich an! Oder fehlt dir dazu der Mut?“ Der Caladran schritt auf Gorian zu, umfasste dabei das Schwert mit beiden Händen, und seine Augen begannen, rot zu glühen, Strahlen schossen daraus hervor, trafen Gorian und rissen ihn von den Beinen. Er prallte gegen den Speerstein und rutschte daran zu Boden.
Ein weiterer Schwall schwarzen Blutes quoll aus der Wunde an seiner Schulter.
Und während sein Rücken den Speerstein berührte, drang eine Flut von Bildern und Gedanken in seinen Geist. Uralte Erinnerungen. Er sah Riesen, die von Scharen von Orxaniern vertrieben wurden, und einen, den ein Erdrutsch verschüttete, sodass nur die Spitze seines Speers noch aus dem Erdreich ragte. Er fühlte die geballte Wut, die sich in all den Zeitaltern in dieser Kreatur angesammelt hatte, da sie unter der Erde gelegen hatte, ohne sterben zu können. Denn der Bann, den man über diesen Ort verhängt hatte, um zu verhindern, dass sich der verschüttete Riese jemals an die Oberfläche kämpfte und sich für die erlittene Schmach blindwütig rächte, hatte ihn am Leben erhalten. Die Wut brauchte ein Gefäß – den Körper des Riesen, erkannte Gorian. Und dieses Gefäß war zum Bersten gefüllt.
Etwas davon nur für mich, dachte Gorian. Vielleicht würde das den entscheidenden Unterschied ausmachen.
Der Caladran wog unterdessen Gorians Schwert in seinen Händen. „Es ist lange her, dass ich mit einer derart primitiven Waffe getötet habe. Aber die metamagischen Berechnungen der Schicksalslinien lassen mir nun mal keine Wahl bei der Art und Weise, wie du zu vernichten bist.“
Gorian schleuderte ihm den Rächer entgegen, legte alle Kraft in diesen Wurf, aber der Caladran hob nur die Hand, und die Waffe drehte ihre Flugbahn und fuhr Gorian erneut in die Schulter, genau dort, wo er bereits verwundet war. Er unterdrückte einen Schrei und hörte das Gelächter seines Gegenübers. „Du Narr! Waffen wie dein Dolch haben die unangenehme Tendenz, zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren. Das wusstest du doch. Gewiss hast du diese Eigenschaft im Kampf des Öfteren für dich genutzt. Nur so wie jetzt hast du dir das bisher nie vorgestellt, was?“
Der Caladran trat auf ihn zu, hob das Schwert wie ein nemorischer Henker.
Gorian zog den Rächer diesmal nicht aus der Schulterwunde. Der Dolch schien gegen diesen Gegner einfach nichts ausrichten zu können. Am Boden kauernd und mit dem Rücken gegen den Speerstein gelehnt, hob er beide Hände empor und streckte die Arme aus. Dabei stieß er einen Kraftschrei aus.
Alle unterirdische Wut für mich!
Ein letzter Versuch, die einzigen Waffen in die Hände zu bekommen, die für einen Kampf wie diesen geschaffen worden waren.
Sternenklinge ...
Schattenstich ...
Dieses Mal zitterten die Klingen an der Spitze des Steins nicht, sondern zuckten daraus hervor, rasten als glühende Blitze herab und verstofflichten sich einen Wimpernschlag später wieder in Gorians Händen. Der Schwertstreich, mit dem der Caladran Gorian den Schädel zu spalten versuchte, wurde durch das Klingenkreuz abgefangen, das sie bildeten. Blitze zuckten die Schwerter entlang und griffen auf den Caladran über, der zitternd zurückwich. Ein weiterer Kraftschrei Gorians folgte. Das in Runen gegossene Sternenmetall auf der Oberfläche des Speersteins platze teilweise ab, wie Geschosse schnellten die Stücke durch die Luft, und mehrere davon durchbohrten den Körper seines Gegners.
Schwankend stand dieser da, versuchte das Schwert noch einmal zu heben. Aus seinem Körper trat an einem Dutzend Stellen schwarzes Blut.
Er war nicht mehr fähig, zu sprechen.
Stattdessen erreichte Gorian ein Gedanke.
„Scheint, als hätte ich dich ... unterschätzt ... Aber nun beende es! Oder lässt du immer nur Gargoyles für dich töten ... Ja, die Erinnerungen deiner Seele sind für mich ein offenes Buch – und wie es scheint, haben wir ein paar gemeinsame Bekannte.“
Gorian erhob sich. Auf den Rächer in seiner Schulter achtete er nicht. Er spürte nicht einmal mehr den Schmerz, wobei er sich nicht sicher war, ob das wirklich ein gutes Zeichen war. Schwankend trat er auf den Caladran zu und hob Sternenklinge, um den letzten Hieb auszuführen.
In diesem Moment verwandelte sich der Caladran. Innerhalb eines Augenblicks stand Thondaril vor Gorian – so wie er den zweifachen Ordensmeister zuletzt gesehen hatte, mit rot leuchtenden Augen und totenbleichem Gesicht.
Das Einzige, was er mit dem Caladran gemein hatte, waren das Schwert in der Hand und die Wunden durch das vom Speerstein abgeplatzte Sternenmetall.
Heiseres Gelächter brandete dem jungen Ordensschüler entgegen, als er innehielt und sein Arm, dessen Hand Sternenklinge führte, mitten im Schlag verharrte.
Gleichzeitig zuckte das Schwert seines Gegenübers vor.
Gorian wich aus, aber zu spät. Der Anblick seines Mentors hatte ihn den entscheidenden Moment lang zögern lassen, und so traf ihn die Klinge seines Gegners noch in die Seite. Blitze zuckten aus dem Schwert, aber die Magie seines Feindes war schwach geworden.
Gorian stieß im selben Moment mit Schattenstich und Sternenklinge zu.
Thondarils Gestalt wich schwankend zurück und fiel dann schwer zu Boden. Dort verwandelte sich sein Körper abermals und wurde zu einem menschengroßen, tödlich verwundeten Wolf.
Honyrr!, durchfuhr es Gorian. Der Gestaltwandler unter den Frostgöttern, den Thondaril einst verfolgt hatte ...
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Die Armbrustschützen auf dem Rücken des Leviathans hatten beobachtet, was geschehen war, und Gleiches galt für die den Riesenwurm eskortierenden