Mittlerweile hatten die Römer allerdings zurückgeschlagen und Boden gutgemacht. Sie hatten aus der Varusschlacht gelernt und reagierten flexibel, stellten sich dem Zweikampf, wo er sich bot. Die Germanen hatten ihre Feinde unterschätzt, denn die Römer kämpften verbissen und schlagkräftig. Sie wollten Rache nehmen für die vielen gefallenen Freunde in der Varusschlacht. Die Überzahl der Römer entschied das Gefecht. Die Germanen wurden zurückgetrieben. Einige konnten fliehen, so auch der Reiter, der
Siobhan geraubt hatte. Andere wurden niedergemacht und ihre Leichen vor das Tor des Lagers geschleppt. Am nächsten Morgen wurden die Leichen vergraben und einige in einen Tonofen geworfen, der nicht mehr gebraucht wurde. Alle Zeichen standen auf Abzug und das Römerlager würde seine Bedeutung verlieren.
Carmelita hatte den Angriff der Germanen nicht überlebt. Siobhan wurde zunächst als Sklavin gehalten. Doch als sie glaubhaft machen konnte, dass sie keine Römerin war, nahm der germanische Krieger sie zur Frau. Drei Jahre vergingen und da Siobhan ihrem Mann in dieser Zeit keine Kinder geschenkt hatte, bekam sie von ihm die Freiheit zurück. Sie schaffte es bis Rom, wo sie beim gealterten Augustus eine Audienz erhielt. Der Kaiser war fasziniert von ihren Erlebnissen und als Anerkennung für ihren mutigen Lebenskampf gab er ihr ein Amt als Kartografin. Im Porticus Vipsania in Rom hing eine monumentale Wandkarte, die die Ausmaße des römischen Imperiums darstellte. Siobhans Aufgabe bestand darin, diese Karte immer auf dem aktuellen Stand zu halten. Fortan reiste sie viel und begegnete im Laufe der Jahre bedeutenden Persönlichkeiten. Sie lernte Sprachen und beherrschte ihr Handwerk wie kein anderer. Auf einer ihrer Reisen sollte sie einem Mann begegnen, der Kafur würdig war. Wegen ihm kehrte sie zurück nach Haltern, nicht ohne Spuren zu hinterlassen.
1 Grabungsstätte Römerlager Haltern
Dr. Hartmut Schliefken munterte die frustrierten Studenten auf, die seit Tagen im Sandbett der Ausgrabungsstätte hockten und keinen nennenswerten Fund getätigt hatten. Nun standen sie alle im Zelt, das als soziale Begegnungsstätte und Auffanglager für Fundstücke diente, und hofften, dass Schliefken sie nicht auch noch in den Pausen zum Gähnen veranlasste. Wenigstens gab es eine heiße Tasse Tee, an der man sich die Finger wärmen konnte. Schliefken nahm selbst einen Schluck als Zeichen seines solidarischen Teamgeistes.
„Die Archäologie ist eine menschliche Tugend. Sehen Sie es mal so: Was brauchen wir? Geduld und Beharrlichkeit. Das beweisen Sie gerade! Wären Sie hier, wenn Sie nicht an den Erfolg glaubten? Glauben hingegen ist keine Tugend, sondern ein Geschenk, das jeder auf seine Weise nutzen kann. Schauen Sie also ruhig auf Ihre Kollegen und sehen Sie, wie der Glaube Sie alle auf zeitlose Weise immer wieder neu fasziniert. So machen Sie die Archäologie zu der würdevollen Kunst, das menschliche Erbe zu entschlüsseln. Die Überlieferungen menschlicher Existenz werden uns auch das göttliche Erbe erklären. Nur der Glaube führt letztlich zur Erkenntnis. Vertrauen Sie Ihrem Glauben! Er ist der Weg zu wissenschaftlicher Exzellenz.“
Schliefken leitete seit Jahren die Ausgrabungen an verschiedenen Stellen entlang der Lippe. Aufmunternde Reden wie diese schüttelte er aus dem Ärmel. In den Augen seiner Studenten investierte er allerdings zu viel Glauben an den Erfolg, mit anderen Worten: Viele konnten seiner Philosophie nichts abringen. Schliefken saß auf seinem Posten als Privatdozent an der Uni Münster und ob die Ausgrabungen erfolgreich verliefen, dafür war er nicht verantwortlich.
„Wo ist denn Herr Bowereit? Ist er heute nicht erschienen?“ Bowereit schrieb an seiner Doktorarbeit und leitete kommissarisch die Ausgrabungen in Haltern.
„Er ist draußen, mit Kalle Steinhofen. Die glauben, etwas gefunden zu haben“, antwortete eine Studentin von kleinem Wuchs.
„Macht uns das nicht alle neugierig? Steinhofen, ist das nicht der ewige Student?“
„Im elften Semester“, bemerkte dieselbe Studentin abfällig grinsend.
„Der könnte schon mit seiner Masterarbeit fertig sein. Was für eine Zeitverschwendung. Es hat aufgehört zu nieseln. Wir können wieder raus. Herr Bowereit wird uns briefen.“
Angelina flüsterte mit ihrem Nebenmann: „Das war genau, was die kleine Schlampe hören wollte. Ich wette, die vögelt den Bowereit, und wenn der Dozent ist, verschafft er ihr einen Posten an der Uni.“
„Kann es sein, dass du überreizt bist? Lass die doch“, meinte der Student gelassen.
„Briefen!“, lästerte Angelina. „Das klingt aus Schliefkens Mund völlig bescheuert. Ich hab einfach keine Lust auf Lackaffen.“
„Hast du deine Tage?“
„Darf ich das als Antrag verstehen, meine beste Freundin zu werden? Mach dich vom Acker, Axel! Mit deinem platten Arsch kannst du bei mir eh nicht landen.“
2 Planquadrat 17 A
Schliefken ging voraus. Die Gruppe der Studenten folgte ihm auf den Fersen, um keine seiner Bemerkungen zu verpassen. Bowereit und Steinhofen standen an einer senkrechten Kante aus beigefarbenem Sandgestein. Bis dahin waren die Ausgrabungen fortgeschritten. Die Kante war etwa dreiviertel Meter hoch und zog sich in gerader Linie 20 Meter durch das mit wildem Gras bewachsene Gelände.
Die beiden Männer schienen zu diskutieren. Bowereit gestikulierte allerdings in einer Form, die eher nach einem Streit aussah als nach einer sachlichen Argumentation. Als er Schliefken und die Gruppe der Studenten kommen sah, wandte sich Bowereit von Steinhofen ab und begrüßte Schliefken überschwänglich.
„Erfreulicher Besuch! Wir können eine Aufmunterung gebrauchen. Seit Tagen kein Fisch im Netz, nicht mal eine einzige Tonscherbe. Die Verteilungskurve der Funde zeigt eine signifikante Reduzierung in nordwestlicher Richtung. Ich schlage vor, die südliche Linie zu intensivieren.“
Eine Studentin mit langen schwarzen Haaren hörte interessiert zu. Angelina war Italienerin und hatte ihr Grundstudium in Pisa absolviert. Sie stand etwas abseits der Gruppe und beobachtete Steinhofen, der sich zu Wort melden wollte, aber von Bowereit mit einer Aufforderung an alle, die Arbeit wieder aufzunehmen, übergangen wurde. Während die anderen Studenten sich an ihre Plätze begaben, blieb Steinhofen stehen und nahm Blickkontakt mit Schliefken auf.
„Würden Sie sich das mal ansehen, Herr Dr. Schliefken?“, bat Steinhofen und machte ein paar Schritte auf die Kante zu. Angelina trat ebenfalls hinzu, Bowereit folgte als Vierter. Steinhofen kniete sich nieder, nahm eine kurze Messlatte und deutete auf einen rötlichen Streifen im Erdreich.
„Ich habe bei den anderen Studenten nachgefragt“, betonte Steinhofen. „Die haben eine derartige Einfärbung noch nicht gesehen. Ich halte das für einen Grund, hier weiterzumachen.“
Schliefken beugte sich herunter, kratzte einige Sandklumpen mit einem kleinen Spachtel ab und fing das Material in einer weißen Plastikschale auf.
„Es sollte mich wundern, wenn das zu einem Fundstück führt. Roter Sand, welche archäologische Relevanz sollte das haben?“
Schliefken hatte die Frage nicht wirklich gestellt, sondern nur laut nachgedacht. Steinhofen fühlte sich aber angesprochen, wollte reagieren, doch Bowereit fuhr ihm erneut über den Mund und ergriff das Wort.
„Geologisch sicher von Interesse, aber nichts für uns.“
Angelina