Die Extreme berühren sich, hieß es einmal. Angesichts des Ineinander von herrschender Meinung und Kritik an ihr, angesichts der Nähe von Augstein und Krippendorff muss es jedoch heißen: was sich berührt, wird extrem.
1991
Sein Name ist ein Ärgernis
Zur Kampagne des deutschen Feuilletons gegen Marcel Reich-Ranicki
Meine Damen und Herren,
wären die militärischen Verschwörer vom 20. Juli erfolgreich gewesen und nicht die Alliierten, dann würden wir uns weder heute Abend hier einfinden können, noch gäbe es den Anlass zu dieser Veranstaltung. Es gäbe keine Medienkampagne gegen den Literaturkritiker, und zwar deshalb nicht, weil es Marcel Reich-Ranicki nicht gäbe, jedenfalls nicht in Deutschland.
Die letzten Juden Europas, derer die Nazis damals noch habhaft werden konnten, wurden gerade in die Gaskammern gejagt, da verständigten sich die Verschwörer auf einen älteren Plan zur Lösung der Judenfrage. Denn auch sie wollten eine Judenfrage lösen. Die Juden sollten aus Europa nach Kanada oder Südamerika verfrachtet werden. Dieser Plan war in Eichmanns Schublade verschwunden, nachdem die Nazis sich entschlossen hatten, es sei besser, die Juden umzubringen, statt sie zu verjagen. Die Juden, oder was von ihnen übrig war, sollten weggeschafft werden, denn die Welt, so die Auffassung der Verschwörer, käme nicht eher zur Ruhe, bis nicht eine globale »Neuordnung der Stellung der Juden« erreicht sei. Auch deutsche Offiziere fänden dann endlich wieder den inneren Frieden, den die Ermordeten gestört hatten. Durch ihre Abschiebung nach Übersee hätten die Juden keine Gelegenheit mehr, Anlass der moralischen Kränkung der Soldatenehre zu sein. Wie sehr Juden in ihrer Eigenschaft als Kandidaten der Ermordung durch SS und Wehrmacht deutschen Offizieren zusetzten, welch unerträgliche Belastungen die Opfer den Tätern aufluden, ja wie geradezu die Täter sich opferten, wenn sie Tote herstellten – von dieser Selbstlosigkeit zeugt nicht nur jene berühmte Rede Himmlers, der 1944 davon gesprochen hatte, dass deutsche Soldaten trotz all dieser Zumutungen anständig geblieben seien. Von General Speidel, dessen Name für die Kontinuität von Wehrmacht und Bundeswehr steht, ist aus dem Jahr 1950 die Auskunft überliefert, dass in Wahrheit nicht die Opfer, sondern die Vollstrecker des Verbrechens gelitten hatten. Über den hingerichteten Mitverschwörer General Carl-Heinrich von Stülpnagel, der an der Ostfront einen »vermehrten Kampf gegen das Judentum« befohlen hatte, über Stülpnagels Einordnung und frühes Leid erklärte Speidel: »Bei seinem hohen ethischen Grundgefühl empfand er das Amoralische des Systems als ständiges seelisches Martyrium.« Damit diese Leidensgeschichte ein Ende hätte, sollten die Juden weg. Reich-Ranicki hätte keine Chance gehabt – ab nach Kanada oder Chile; selbst die Ausnahmebestimmungen, über welche die Verschwörer penibel nachgedacht hatten, hätten ihm damals nicht geholfen. Nur Juden, deren Familie schon über mehrere Generationen in Deutschland ansässig waren, sollten bleiben dürfen, oder jene, die sich um Deutschland verdient gemacht hatten. Aber Reich-Ranickis unheilbare Liebe zur deutschen Kultur hatte damals noch vornehmlich darin bestanden, dass er las und noch nicht publizierte, dass er also noch nicht zum »Verdienstjuden«, wie es bei den Nazis geheißen hatte, avanciert war. Genau unter der Berufung auf diese Anstrengung, Reich-Ranicki habe einen wichtigen Beitrag zur deutschen Kultur geleistet, verteidigten manche den Angegriffenen gegen die Infamien des deutschen Feuilletons.
Von Tucholsky, der andere Daten deutscher Traditionsfindung kommentierte, stammt die treffende Bemerkung: »Nie geraten die Deutschen so außer sich, wie wenn sie zu sich kommen wollen.« Heute wollen sie wieder. Es soll historisch zusammenwachsen, was wirklich zusammengehört, denn nach der geschichtlichen Vorlage ist auch das Modell der Identität gebildet, das nun vom Stapel laufen soll. Die negative Abgrenzung nach außen korrespondiert mit der positiven Bindung nach innen und dem Anschluss der Vergangenheit. Deren Dioskuren oder doppeltes Lottchen heißen Schindler und Stauffenberg, oder auf einen Nenner gebracht: »der gute Nazi«. Doch wie damals, als der identische Deutsche um sein seelisches Gleichgewicht gebracht wurde, so stören die Juden auch heute den Frieden, der mit der Geschichte gemacht werden soll. Ansonsten umworben und für die Imagepflege Deutschlands bei jeder sich bietenden offiziellen Gelegenheit ins Rampenlicht geschleift, sind die Juden anlässlich der Ausrufung des »anderen Deutschland« auf eigentümliche Weise abwesend. Sie jedenfalls haben nicht vergessen, dass dieses »andere Deutschland« noch, wie Hannah Arendt es einmal formuliert hat, »durch einen Abgrund von der zivilisierten Welt getrennt war«. Und diesen Abgrund nimmt man den Juden übel. Sie hätten ein Problem mit dem 20. Juli, beschwerte sich der Sohn des Hitler-Attentäters, als der Vorsitzende des Zentralrats der Juden vorsichtig auf diesen Abgrund hinwies. Stauffenberg junior kann Bubis freilich nicht verzeihen, dass die Mehrzahl der militärischen Verschwörer ganz ordinäre Antisemiten waren. Für den Umstand, dass darüber beim offiziellen Gedenken nicht die Rede sein soll, wird man seit einiger Zeit ausführlich entschädigt. Dem Schweigen über die Vorgeschichte, die Motive und Pläne der militärischen Verschwörer gegen Hitler entspricht die Geschwätzigkeit über die Opfer. Wenn der Bürger, schrieb Adorno einmal, schon zugibt, dass Verbrechen geschehen sind, dann will er auch, dass das Opfer mitschuldig ist. Der gegenwärtig zu neuem Leben erweckte anständige Deutsche bezieht gerade aus der Unanständigkeit der Ermordeten und Überlebenden seine politische Vitalität. Wie die Kirche den Teufel, so braucht der gute Deutsche den bösen Juden. Dieser Zusammenhang liegt der »Affäre« Reich-Ranicki zugrunde, die eine Affäre des deutschen Feuilletons ist.
Die antijüdische Begleitmusik, die in diesem Fall gespielt wird, ist nicht neu. Die Orchesterbesetzung hat gewechselt. Jahrelang war, um einen verwandten Fall zu erwähnen, Heinz Galinski, der verstorbene Vorsitzende der Berliner jüdischen Gemeinde, die Projektionsfigur für einen weitverbreiteten Antisemitismus von unten, einen Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Wer gar nichts wußte, wußte immer noch, wer Galinski war; wer nichts zu sagen hatte, dem fiel zu Galinski etwas ein. Er war der »Mahner«, wie es immer wieder hieß, der sich als notorischer Gläubiger gebärdete. Er war der Itzig der Nachkriegszeit, die mit seinem Tod und der Wiedervereinigung zu Ende ging. Der Hass auf ihn freilich war nicht Ausdruck dumpfer Verdrängung der mörderischen Geschichte, sondern eine Leistung des hellwachen Bewusstseins selbst noch der verblödetsten Landsleute: mit der jüngeren deutschen Geschichte sollte nicht einfach Schluss sein, sondern diese sollte, indem es gegen Galinski ging, erst richtig zu ihrem Abschluss gebracht werden. Dass er noch da war, ging nicht mit rechten Dingen zu. Etwas war damals schiefgelaufen. Er war sozusagen ein Toter, der nicht sterben wollte.
Im Fall Reich-Ranicki, dem man nicht den Titel eines »Mahners«, sondern den um nichts weniger Respekt wie Ranküne vereinigenden Titel eines »Richters«, eines »gnadenlosen Richters« verliehen hat, in seinem Fall verhält sich die Sache etwas anders. Der Mann wird nicht vom Publikum, sondern von Kollegen und Literaten gehaßt, die das Ressentiment erst ausbilden und formulieren müssen, damit es kollektiv wirksam wird. Erst wenn diejenigen, die Reich-Ranicki als Literaturkritiker verrissen oder, schlimmer, ignoriert hat, es geschafft haben werden, den Kritiker im jüdisch-kommunistischen Agenten verschwinden zu lassen, können sich alle, nicht nur die Handvoll bedeutungsloser Schriftsteller und Journalisten, als bedeutende Opfer eines Bösewichts fühlen. Die Kampagne gegen Reich-Ranicki, der in den Augen ihrer Protagonisten den dreifaltigen Vorwurf: Jude, Kommunist und Kollaborateur verkörpert, ist der patriotische Beitrag des klugen Kerls, oder anders gesagt: Antisemitismus von oben. Es ist in diesem Zusammenhang von ausgesuchter Ironie, dass ausgerechnet in seiner eigenen Zeitung, der FAZ, vor Jahren die Frage aufgeworfen wurde, die nun anhand seiner Person beantwortet wird. Damals fragte ein Autor angelegentlich der Theateraufführung »Getto« ganz ungeduldig: »Wann verlieren die Opfer ihre moralische Unschuld«? Und auch der Spiegel nahm damals von einer lieb gewonnenen Vorstellung Abschied, der zufolge die umgebrachten Juden alle Kammermusiker, Philanthropen und Nobelpreisträger