II.
Der Zweite Weltkrieg ist nachträglich zu Lande gewonnen, hat aber nichts außer einer riesigen Immobilienmesse gebracht. Diese ist bewohnt mit zahlungsunfähigen Kunden, die man weder umstandslos in ein Heer von Arbeitssklaven verwandeln, noch einfach beseitigen, ja nicht einmal draußen halten kann. Um diesen Gewinn, dessen keiner der Landsleute so richtig froh wurde, wenigstens spirituell zu veredeln, machten sich nach den Historikern die Ingenieure fürs Höhere, die Feuilletonisten, ans Werk. Wenn nicht auf Erden, so sollte wenigstens über den Wolken das geschichtliche Glück der Deutschen grenzenlos sein: der Endsieg im Luftkrieg musste also noch errungen werden. Der Countdown für diesen Luftkampf begann im Frühjahr 1992 mit einer journalistischen Bastelstunde zur jüngeren deutschen Geschichte und endete im Herbst mit einem Fehlstart in Peenemünde. Glücklicherweise kam bei diesem Versuch, die V-2 im Unterschied zur nazistischen Propagandalüge nun wirklich zu einer Vergeltungswaffe fortzuentwickeln, niemand zu Schaden, außer jenen Bastlern, die ihn anderen zufügen wollten.
Ende Mai wurde in London ein Denkmal für den britischen Luftwaffengeneral Harris errichtet, und prompt saß, wie Tucholsky einmal die Reaktion seiner Landsleute auf politische Witze charakterisierte, halb Deutschland auf dem Sofa und nahm übel. Die Oberbürgermeister mehrerer im Zweiten Weltkrieg bombardierter Städte schrieben Protestbriefe nach England. Die notorischen Mahnwachen, die schon während des Golfkriegs mit der Parallele von Dresden und Bagdad Erfahrungen an der Entlastungsfront gesammelt hatten, nahmen ihren Ehrendienst an der Leidensfront der deutschen Geschichte wieder auf. Und schließlich trat sogar das Außenministerium auf den Plan. Genscher ließ die britische Regierung wissen: »Das Vorhaben ist geeignet, alte Wunden aufzureißen. Es könnte zu einem Rückschlag für die in deutsch-englischer Städtepartnerschaft geleistete Arbeit führen.«
Mit dieser Drohung machte das Land der Kaiser-Wilhelm-Plätze und Rommel-Kasernen ernst: ab sofort wurde zurückgedacht. Der Spiegel schrieb, Harris habe den »ersten vornuklearen Massenmord aus der Luft« organisiert; die Welt war sich mit ihren Lesern einig, der britische General sei ein »Architekt der Vernichtung« gewesen, und die Frankfurter Rundschau entdeckte an dem Weltkriegsgeneral der britischen Luftwaffe einen Charakterzug, den man nun wirklich keinem KZ-Kommandanten nachsagen konnte: »tatsächlich ein Schlächter« gewesen zu sein. Die FAZ, deren Mitherausgeber Reißmüller wegen des Bodenkriegs an der serbischen Ostfront unabkömmlich war, ließ den Redakteur Gillessen als Abfangjäger in den westlichen Luftraum aufsteigen. Von seinem Einsatz kehrte dieser mit dem Verdikt »Harrisbarbarei« und einer Ehrenrettung für die Nazi-Luftwaffe zurück. Diese habe im Gegensatz zur Royal Air Force nicht die Vorstellung geteilt, »ersatzweise oder direkt Krieg gegen die Zivilbevölkerung zu führen«. Guernica, Rotterdam, Coventry und Belgrad »resultierten aus Fehlern«, meldete er seinen diensthabenden Vorgesetzten, blieb aber die Auskunft darüber schuldig, ob die damals Verantwortlichen dieser bedauerlichen Pannen deshalb vor ein Kriegsgericht gestellt oder gerade deshalb ausgezeichnet wurden.
III.
Kein Luftkrieg kann erfolgreich geführt werden, wenn der Gegner nicht mit einer schlagkräftigen, am Boden stationierten Flugabwehr rechnen muss. In dieser Bodentruppe tat sich durch besonderen Einsatzeifer Günther Rühle vom Berliner Tagesspiegel hervor. Er ist nachgerade der verdiente Flakhelfer des deutschen Feuilletons. Rühle musste sich in diesem Kampf bewähren und für eine von der Öffentlichkeit fast vergessene Niederlage rehabilitieren, die er an einem anderen Frontabschnitt vor Jahren hatte einstecken müssen.
Mitte der 80er Jahre hatte er erfolgreich das Frankfurter Schauspiel in Verruf gebracht mit der Penetranz, mit der er als Theaterdirektor darauf bestand, ein Stück von Fassbinder gegen die Proteste vornehmlich von Juden aufzuführen. Noch als Feuilletonchef der FAZ hatte er dieses Stück für belanglos gehalten, als Theaterleiter dünkte es ihn dann genialisch. Die Absichten, die er mit der Aufführung verband, zitierte damals die New Times mit dem Ausspruch: »The no-hunting, season is over« – ein Wort Rühles, das man nur bei Strafe einer einstweiligen Verfügung korrekt in den deutschen Originalton rückübersetzen darf.
Fassbinders damals nicht aufgeführtes Stück »Der Müll, die Stadt und der Tod« markierte indes tatsächlich das damals von vielen geforderte »Ende der Schonzeit« für Juden in Deutschland. Es spielte seinerzeit die Rolle eines Katalysators, der die Theateraffäre zum kulturellen Wiederholungsprogramm von Bitburg machte. Der Theaterdirektor Rühle gab den Kanzler und hielt durch, und die Presse verbat sich jüdische Einmischungen. Damit erlebte Fassbinders wüste Hinterlassenschaft eine Aufführung ganz im Stil des Experimentiertheaters: die Hauptdarsteller saßen im Publikum und exemplifizierten die nur scheinbar paradoxe Einsicht, die Fassbinders Stück durchzieht, dass nämlich die Deutschen heute Antisemiten seien nicht trotz, sondern wegen Auschwitz.
Prompt wurde damals, wie etwa in der liberalen Frankfurter Rundschau, der nazistische Terminus vom »jüdischen Kapital« rehabilitiert; der Theaterkritiker der Zeitung sah das deutsche Theater von einer jüdischen Finanzverschwörung bedroht und sich ganz persönlich von den Juden erniedrigt. Die von allen beschworene Freiheit der Kunst entpuppte sich als die Pflicht, die deutsche Ehre zu verteidigen, und als hätte jemand die Parole ausgegeben: »Deutsche wehrt euch, hört nicht auf Juden!« beteiligte sich damals auch die Szene am Abwehrkampf gegen »jüdische Power« und gegen »organisierte jüdische Empörung«.
Rühle musste damals das Feld räumen. Beim Berliner Tagesspiegel ist er heute als Berater der Chefredaktion sein eigener Bewährungshelfer, und wie weiland an seinem Frankfurter Arbeitsplatz versucht er nun, die durch seine Mitarbeit schon demontierte Reputation des Blattes mit wöchentlichen Kolumnen im Feuilleton vollends zu ruinieren. »Das war nun wirklich eine deutsche Woche. Drinnen und draußen«, resümierte er Anfang Oktober. »Die Frage ›Was ist mit den Deutschen los?‹ beschäftigte manches Gehirn. Die seit zwei Jahren lauernde Angst vor dem neuen Deutschland schnürte sich wieder zum Paket; Verursacher von Ausländerfeindlichkeit, Aggressionen gegen jüdische Denkmale, D-Mark-Politik mit Lira- und Pfundsturz, ›V2‹-Jubiläum: das gab draußen Anlass genug, das Auge zu schärfen, die Stimme zu erheben, Schlagzeilen von Rom bis London zu erfinden, wie sie im zusammenrückenden Europa unerhört sein sollten.«
Doch seine deutsche Woche hatte neben geschnürten Angstpaketen »freilich auch sichtbare Festigkeiten« im Angebot: die »sachbeglänzte Zustimmung« zur Politik des Kanzlers. Derlei politische Kommentare wurden verfrüht mit dem Spott von Kollegen belegt, der Autor verabreiche damit seiner Zeitung die »letzte Rühlung«. Denn der Tagesspiegel hatte auch schon andere Anschläge des tapferen Schreiberleins überlebt, das oft mit einer Spalte gleich sieben Themen erledigt.
»Die Brandherde der Unvernunft sind auch in Europa nur schwer zu löschen«, sprang er einmal nach einigen Zeilen über die Hitzewelle, das Ozonloch und die Aktualität von Dinosauriern mitten in den jugoslawischen Bürgerkrieg: »Die Bilder der Verwüstung schrien weiter zum Himmel, die entsetzten, fliehenden Menschen verlängerten das uralte Bild von der Flucht als Daseinsverhängnis in die aufklärungsfähige Zeit« – womit er wieder im Einzugsgebiet des deutschen Feuilletons angekommen war: »Salzburg 1992: die gelebte Utopie neben dem Blutbad.« Derlei Sprünge von Abel bis Bebel werden in der Psycholinguistik neuerdings als »laterales Denken« bezeichnet. Früher nannte man das einfach wirres Gefasel. Von der »gelebten Utopie« in Salzburg bis zur gelebten Idiotie in einer Berliner Tageszeitung,