Galinsksi sei ein »unbequemer Mahner«, attestierten ihm alle Redner, als zahlten sie ihm nun, da sie ihn aufs Altenteil hinweglobten, mit einem Jagdschein die vielen Persilscheine der Vergangenheit heim. Gelegentlich nicht unbequem genug, fügte launig der Regierende Bürgermeister im Bewusstsein hinzu, dass er mit dieser Bitte nach einem Schuss Altersradikalität die Machtlosigkeit des mit den Gewissensverwaltung beauftragten Gemeinde-Vorsitzenden bekräftigte.
Auch die Gratulantin Heidemarie Bischoff-Pflanz von der Alternativen Liste, die Galinski staatstragendes Verhalten, nämlich »konstruktive Kritik«, kurz: ein guter Jude geworden zu sein, bescheinigte, sähe den Gemeindevorsitzenden gern der von ihrer Partei reklamierten neuen politischen Kultur gegenüber etwas aufgeschlossener. Was sie darunter verstand, sagte sie, zur Frau des Gemeindevorsitzenden gerichtet: »Kein Mann kann diese Kraft aufbringen ohne Hilfe seiner Frau.« Verglichen damit war das Angebot von Frau Laurien, die Jüdische Gemeinde häufiger mit der CDU-Frauenorganisation heimzusuchen, eine feministische Offerte.
Von allen Festrednern wurden Galinski jene deutschen Sekundärtugenden bescheinigt, deren Untergang die Republikaner aufhalten wollen, nämlich Arbeitsfleiß und Durchhaltevermögen. In der zweitausend Jahre alten Bibel, die für eine Weile als Zitatenquelle sinnstiftender Gemeinplätze diente, komme die Zahl vierzig, so einer der Gratulanten, genau 124 mal vor. Mindestens genau so oft war in der zweistündigen Jubelfeier vom »unermüdlichen Einsatz« Galinskis die Rede, so als wollten dem ehemaligen Zwangsarbeiter alle nachdrücklich bestätigen, er habe die ihm erteilte Lektion wirklich begriffen.
Aus Ostberlin, wo Galinski im November 1988 beim Pogrom-Festival den goldgelben »Stern der Völkerfreundschaft« angeheftet bekommen hatte, war der Staatssekretär für Kirchenfragen zum Gratulationsdéfilé angereist. Zwar machte dieser am Anfang »mit tiefer innerer Bewegung« darauf aufmerksam, dass der Absender seiner Grußadresse, der »oberste Repräsentant der Deutschen Demokratischen Republik, der Vorsitzende des Staatsrats und Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands Erich Honecker« über einen längeren Titel verfügte als der Empfänger, doch nach dieser Einleitung war alles Trennende vergessen.
Beflügelt vom sprachlichen Wiedervereinigungsangebot des Berliner FDP-Vorsitzenden Rasch, der Galinskis langjährige Amtszeit neidvoll auf ein physiologisches Wunder, auf einen »lautstark erhobenen Finger« zurückgeführt hatte, kannte der DDR-Repräsentant keine Parteien mehr, nur noch Plattitüden. Der Massenmord wurde bei ihm zu »jenen schweren opferreichen Tagen damals, als die Sonne nicht mehr schien«. Und, dem FDP-Politiker in der Metaphernbildung nacheifernd, sah er im Wahlerfolg der Republikaner »die finstersten Triebe das Haupt erheben«, gegen welche die »Ehre des deutschen Namens in der Geschichte« verteidigt werden müsse. Wegen der vorausgegangenen Kinderdarbietung »Heut ist ein schöner Tag, dein Jubiläumstag« verlor der Staatssekretär dann auch noch die räumliche Orientierung und glaubte sich bei einem Fest der Jungen Pioniere. Er reimte als Schlusssatz: »Dieser unser Planet blüht und gedeiht, damit Frieden herrscht für alle Zeit. – Schalom.« Otto Schily hätte im Bundestag genau an dieser Stelle die Stimme vor Betroffenheit versagt.
In seinem Schlusswort nahm Galinski die neue Rolle des Referenten fürs Betriebsklima und den Hausfrieden emphatisch an. Das Wichtigste sei der »Konsens der Demokraten«: »Mir geht es immer um Gemeinsamkeiten.« Jetzt weiß man, was die viel beschworene deutsch-jüdische Symbiose meint: gemeinsam sind sie unausstehlich. Oder wie der bekannteste Stadtneurotiker Jerusalems, Gad Granach, einmal über Berlin sagte: ein Dach über die Mauer und man hat eine geschlossene Anstalt.
Heinzelmännchens Wachparade 1992
Wie den dienstfertigen Kölner Kobolden trauerte im Sommer 1992 die wohlmeinende Öffentlichkeit dem verstorbenen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde nach. Alle Nachrufer seufzten im Chor: »Ach wie war es doch vordem / mit Heinz Galinski so bequem«, und hofften, dass die Stelle des Mahnwächters nicht allzu lange vakant bliebe. »Es war seines Amtes, seine Verantwortung und Verpflichtung, anzuprangern, anzumahnen«, schrieb die Zeit über den toten Chef der jüdischen Firma »Mahnen & Warnen«.
Wer sollte nun die Drecksarbeit machen, fragte sich auch der Tagesspiegel. Und weil die Lebenden fest schliefen, sollte der Tote keine Ruhe haben. Galinski war kaum einen Monat unter der Erde, da buddelte ihn einer der Tagesspiegel-Redakteure wieder aus. »Manchmal bringen sich Tote dadurch in Erinnerung, dass das Fehlen ihrer Stimme auffällt«, hieß es salbungsvoll in der Zeitung, deren Fehlen niemandem auffiele, die sich in ihrer Schlafmützigkeit aber unverfroren in Erinnerung brachte mit der Aufforderung an die Juden, als öffentlicher Muntermacher zu fungieren: »Das Wachhalten der Erinnerung an die jüdische und deutsche Vergangenheit, die Anprangerung von Antisemitismus und Rechtsradikalismus – all das wird wie zuvor zu den Hauptaufgaben der jüdischen Gemeinschaft im Land der Täter und ihrer Nachkommen zählen.« Zu den öffentlichen Nebenaufgaben rechnete jener Redakteur, der sich am Grabe Galinskis zu schaffen machte, klärende Worte zu den Folgen neuer deutscher Außenpolitik, etwa zu den Lagern in Jugoslawien. Doch der Tote gab leider keine Antwort. »Niemand kann wissen, was Galinski dazu gesagt hätte«, sinnierte der um die Nachhilfe aus dem Jenseits gebrachte Leichenbeschauer. »Aber eines«, schloss er seine Besichtigung ab, »dürfte gewiss sein: Er hätte nicht geduldet, dass in Deutschland über diese Themen so erschreckend wenig diskutiert wird. Sein Schweigen ist unüberhörbar.« Aber offenkundig nicht laut genug, um solche Sätze zu übertönen.
Die Juden erinnern an die Pogrome, und die Deutschen veranstalten sie. Die Juden mahnen, und die Deutschen machen. Abgeschirmt in Reservaten, den Hochsicherheitsgettos der jüdischen Gemeinden, dürfen sie an Gedenktagen das deutsche Judenschutzgebiet verlassen, um als moralische Pausenclowns für das wohlige Gruseln, für die kleine Betroffenheit zwischendurch zu sorgen. Hätte er, wie die Grünen im November 1988 vergeblich gefordert hatten, im Bundestag gesprochen, wäre der Skandal ausgeblieben, den die Rede Jenningers auslöste. Galinski hätte verwirklicht, wovon Walter Jens immer nur träumen kann: nämlich Jude zu sein und eine Predigt zu halten. Er hätte gemahnt. Jenninger hingegen plauderte ganz unanständig aus, wie fasziniert bis heute die Deutschen von Hitler seien. Das war ein lichter Moment im deutschen Parlament und wurde ein schwarzer Tag für dessen vorlauten Präsidenten. Denn so genau wollte man nicht wissen, welche Elemente des Nationalsozialismus in der Demokratie fortwirkten.
Der Tod Galinskis bot Gelegenheit, die Arbeitsteilung zwischen Mahnern und Machern zu bekräftigen. Der Galinski schon zu Lebzeiten verliehene Titel »Ein Mahner«, mit dem nicht nur die Zeit ihren Nachruf überschrieb, war vor allem eine Auszeichnung, mit der die Ohnmacht der Erinnerung bekräftigt wurde. Die Mahnung, so heißt es im Bürgerlichen Gesetzbuch, ist eine an den Schuldner gerichtete Aufforderung zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten. Die Mahnung unterbricht aber nicht die Verjährung, heißt es ebenfalls dort. Gerade dieser tröstlichen Gewissheit wegen nistete das Ressentiment in der Galinski ausgesprochenen Anerkennung. Denn gleichzeitig war damit auch angedeutet, er gebärde sich als notorischer Gläubiger, als jemand, dessen moralische Hülle notdürftig das nackte materielle Interesse, nämlich den Zahlungsbefehl, verberge.
Dem heimlichen Groll gegen die Entschädigungszahlungen an Israel oder an jüdische Organisationen ähnlich, insinuierte die Galinski nachgerufene Auszeichnung, ein »unbeugsamer Mahner« gewesen zu sein, das Moment des Zwangs, der Erpressung. Die moralische Autorität Galinskis, die ohnehin nur in der Einbildung der Juden bestanden hatte, war damit als bloßes Mittel zum Zweck des Vernichtungsgewinns identifiziert. Wenn er also trotz der Verjährung seinen Schuldnern im Nacken saß, mahnte und auf der Vollstreckbarkeit der Titel beharrte, dann konnte er nicht recht bei Trost gewesen sein.
In der vorgeblich respektvollen Formel vom »hartnäckigen Mahner« schwang augenzwinkernd die etymologische Verwandtschaft von Mahnung und Manie mit, ein Zusammenhang, der im Gedanken vom Gläubigerkomplex wiederspiegelte, was in der gängigen Rede vom Schuldkomplex vorgebildet war: alles krankhafte