Anschwellendes Geschwätz. Jürgen Roth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Roth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941895966
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erbärmliche Lebensstile, sie manipuliert und lügt per se. »Die Werbung leugnet die Wahrheit beharrlich«, hieß es im Katalog zur Ausstellung »echt und falsch – Die Wahrheit im Medienzeitalter« (2000, Mainz, Gutenbergpavillon), und die Exposition »X für U – Bilder, die lügen« (1998/1999, Haus der Geschichte, Bonn) widmete sich den »kalkulierten Trugbildern« des Marketings direkt neben der faschistischen Medienmobilisierung und den Fernsehmythen des zweiten Golfkriegs.

      Womöglich ballert man mit U-Boot-Kanonen auf Spatzen, erinnert man daran, daß Werbung, wie wir sie heute verstehen, aus den Methoden der Nazipropaganda und der US-amerikanischen »Rumor clinics« hervorging. Gezielt Legenden lancieren und Gerüchte streuen, bis sie für wahr gehalten wurden, das war die Politik der Verblendung, und 1946 tat die amerikanische Industrie zufrieden kund: »Die Kunst, die öffentliche Meinung zu steuern, hat ein hohes Maß an Vollkommenheit erreicht.«

      Heute bedarf es jenes hohen Maßes an Vollkommenheit scheinbar weniger. Die deutsche Helena Verona Feldbusch, gewissermaßen das geschickte Pendant zum turtelnden Selbstvermarktungsgenie Scharping, preist Spinat und Telephonauskunftskünste gleichermaßen täppisch an, und das schert niemanden. Der Verbraucher hat die Masche längst durchschaut.

      So lachhaft läuft’s, wo Dreistigkeit und Dummheit die Geschäftsgrundlage bilden. »Werbung verspricht, was sie nicht halten kann. Auf jeden Fall trägt sie zu dick auf«, erkannte der Kunsthistoriker Beat Wyss einst klingenscharf. Für eine solche Einsicht braucht es keinen Marketingwissenschaftler, der den Zeigefinger hebt (»Viele Unternehmen«, tadelt Voeth, »bauen Mist. Es ist Zeit, ihnen den Spiegel vorzuhalten«), geschweige denn einen Wettbewerb, der besonders dicke Klöpse aus der Welt des Schwindels anprangert. Den Job der Selbstentblödung erledigen die Marketingmanager in Politik, Wirtschaft und Sport immer noch selber am effektivsten.

      Verschweinskopfung

      4. März 2002, kurz vor 5.45 Uhr. Ein deutscher Journalist schreibt seine »erste Feldpost«. Franz Josef Wagner. Sie erscheint einen Tag später. In der Bild-Zeitung.

      »Lieber kämpfender deutscher Soldat«, beginnt die »Post von Wagner«, »es liegt mir am Herzen, Ihnen heute zu schreiben.« Und das rapportiert Wagner: »Bei uns daheim im großen und ganzen alles o. k. Boris hat eine Neue, eine US-Perserin, heißt Patrice Farameh. Würdet ihr auch nicht aus dem Schlafsack stoßen. Die Bayern holen auf, unglaublich, nur noch drei Punkte hinter Leverkusen. Ja, und gestern. Die Zeitungen voll mit Formel 1. Ralf Schumacher krachte beim Start mit Barrichello zusammen und flog siebzig Meter mit seinem BMW durch die Luft ...«

      Dann, nach exakt der Hälfte – Peripetie! »Plapper’ ich euch zuviel? Ja, ich plapper’ zuviel, weil ich mich darum drücke, über das Töten zu schreiben. Die pazifistischen Grünen und die verlogenen Friedens-PDSler schreien jetzt auf. Ja, ich wünsche euch, daß ihr den Gegner tötet, bevor er euch tötet.«

      Nun ist der Rubikon überschritten. Die Post geht ab, es geht ihm einer ab. Jetzt, noch jenseits der Landser- und der Jünger-Prosa, geht alles. Die Presse wird, dem 5. März sei Dank, nie mehr sein, was sie mal war. Mit Franz Josef Wagners Epistel an die deutschen Sondersoldaten begann eine neue Epoche. Dergestalt:

      »Über das US-Verteidigungsministerium, nicht über das deutsche, erfuhren wir, daß ihr, Soldaten der deutschen Elite-Einheit KSK, in den Bergen Afghanistans einen Mann-gegen-Mann-Krieg führt. Wenn es Nacht ist, ist euer Gesicht geschwärzt. Tagsüber ist euer Kampfanzug weiß wie Schnee. Ich stammle euch aus der Heimat: Habt Glück, paßt auf, schießt schneller. Herzlichst – Ihr F. J. Wagner«.

      F. J. Straußens Verdikt über die »Schweinepresse« greift zu kurz; gleichfalls das – auf die angebliche Linke gemünzte – Gerhard Stoltenbergsche über die »Kampfpresse«. Mit FJW und seiner vollkommenen Verschweinskopfung, mit jener hochgradigsten Obszönität ist nicht mehr zu Rande zu kommen. Wir sind durchs Ziel.

      Wie bekannt, sagte ein tschechischer Ministerpräsident vor nicht allzu langer Zeit: »Journalisten sind Dummköpfe, Dreck und Fäkalien.«

      Kraus und Kant

      Daß er hundertdreißig Jahre alt wird, das hätte sich Karl Kraus, der heute vor hundertdreißig Jahren geboren wurde, ernsthaft erhofft. Den Einzeltod hielt er zuweilen für eine ähnliche Pest und Zumutung wie die Welt in ihrer niederträchtigen Beschaffenheit, die Welt, die, so ein fast geflügeltes Wort des großen Wieners, nach der Presse erschaffen wurde und seither versinkt im Ozean der »Welthirnjauche«; und die, die Welt, noch jenseits aller Pressefrechheiten und publizistischen Infamien vor allem in Agonie und Raserei liegt, weil die Menschen nicht zur Besinnung gelangen und ihren Planeten unvermindert in einen die Apokalypse hier und heute vor Augen führenden Friedhof verwandeln, auf dem sich die Würdelosigkeit der Gattung nackt und kahl und fürchterlich in stetig wachsenden Leichenbergen zu erkennen gibt.

      Daß ihm irgendein dahergelaufener Quackel in irgendeinem nutzlosen Feuilleton einen Geburtstagsgruß darbringt, hätte sich Kraus schneidend verbeten. Seine Verachtung der bürgerlichen Usancen und der bürgerlichen Gesellschaft, die vernebelnd so heißt, damit man über den Kapitalismus und den Krieg nicht reden muß und in der Nabelschau das Bewußtsein verlogen befriedet, war – entgegen aller Häme, die ihm von den Feiglingen entgegengebracht wurde – Ausdruck eines Mutes, der Zeitungsschreibern so fern ist wie der Mars der Erde, und einer Liebe zu den Menschen, die deshalb wahrhaftig war, weil sie auf jede sentimentale, scheinheilig empathische Äußerung verzichtete.

      Nur im Haß vermag Humanität noch zu überdauern angesichts einer Welt, die in Gewalt, Leid und Barbarei zugrunde geht – das war wohl ein Credo des Karl Kraus, obschon er eingewendet hätte, daß, wer ein Credo hat, keinen Gedanken hat. Sein Haß galt den Schmöcken, und er galt dem Militär und allen, für die es kein Skandal ist, daß Menschen hingemetzelt werden.

      In der Fackel Nr. 474-483, im Mai 1918, stellte er der Rede eines deutschen Mörders, der 1917 dem »Herrn der Heerscharen« gedankt hatte für den »völligen Sieg im Osten« und »die Heldentaten unserer Truppen« »wurzeln« sah »in den sittlichen Kräften, im kategorischen Imperativ« des »großen Weisen von Königsberg«, eine kurze Kant-Passage gegenüber, in der der philosophische Jubilar des Jahres die »Hymnen, die dem Herrn der Heerscharen gesungen werden«, als furchtbares Symptom der Gleichgültigkeit bezeichnet, weil sie »noch eine Freude hineinbringen, recht viel Menschen oder ihr Glück zernichtet zu haben«.

      Kraus ließ diese deutsche Soldatenperversion, wie nicht selten, unkommentiert. Wenige Seiten später widmete der Hasser dem ostpreußischen Milden das sechzehnstrophige Gedicht »Zum ewigen Frieden«, seine Verehrung auch dadurch bezeugend, daß er Kants Vermächtnis als Motto vorausschickte: »Bei dem traurigen Anblick [...] der Übel, [...] welche sich die Menschen untereinander anthun, erheitert sich doch das Gemüth durch die Aussicht, es könnte künftig besser werden; und zwar mit uneigennützigem Wohlwollen, wenn wir längst im Grabe sein und die Früchte, die wir zum Teil gesät haben, nicht einernten werden.«

      Die Verse, die Kraus, der finstere Aufklärer, darunter schrieb, sind nichts anderes als zart, warm, hell und wahr. »Nie las ein Blick, von Thränen übermannt, / ein Wort wie dieses von Immanuel Kant. // Bei Gott, kein Trost des Himmels übertrifft / die heilige Hoffnung dieser Grabesschrift«, beginnt die Hymne, und sie endet, das Ende aller Zeiten abwehrend: »Sein Wort gebietet über Schwert und Macht / und seine Bürgschaft löst aus Schuld und Nacht. // Und seines Herzens heiliger Morgenröte / Blutschande weicht: daß Mensch den Menschen töte. // Im Weltbrand bleibt das Wort ihr eingebrannt: / Zum ewigen Frieden von Immanuel Kant!«

      Der Sportloser des Jahres 2002

      »Ohne Boris Becker wär’ ich nix!« bezeugte am 11. Dezember 2002 ihre unverbrüchliche Dankbarkeit gegenüber dem von der Bild-Zeitung nach wie vor als »Tennisheld« gehandelten Leimener Windei die ehemalige Lebensaufschlagsgefährtin des Wimbledon-Berserkers und heutige sog. TV-Moderatorin Patrice Farameh und lieferte uns damit das alles entscheidende Big-Point-Stichwort zur finalen Begutachtung des Sportjahres 2002. Denn