Weil das nicht reichen sollte, stürmte ab 1973 hinwieder ein allgemeines Faible zur »Neuen Subjektivität« heran, welches die Gebrauchstexte in immer neuen Varianten um die gewissermaßen kunstvollere Dimension der genuinen Erzählung, die irgendwelche Studentenrevolutionserfahrungen »verarbeitete«, ergänzte. Zu erwähnen wäre Peter Schneiders Prototyp Lenz (1973) und besser sofort abzuhaken; weshalb das große Sichfreischreiben, angefüttert vom nagenden »Erfahrungshunger« (Michael Rutschky), die Themen Ehe, Haushalt, Homosexualität erschloß, stets in Tuchfühlung zum virulenten Werther-Paradigma der Trennungsgeschichte, des Suizids und freilich der »Utopie der Unbestimmtheit« (Rutschky), die sich aus der »Innenwelt der Außenseiter« (Mattenklott) ergoß. Schreibgruppen stießen die »Verständigungstexte« (so lautete ein großartiger Reihentitel des nimmermodischen Suhrkamp Verlages) an, und bundesweit wurden »Treffen schreibender Frauen« einberufen.
Deren Wirken gedieh bereits auf dem Humus einer »Literatur als Therapie« (erkannte u. a. der Schweizer Adolf Muschg), die neben einer »Literatur der Fremde« und einer gleichfalls allseits präsenten Häftlingsliteratur seit 1971 die Frauenbewegung eskortierte, gehorchend gewissermaßen dem Suhrkamp-Einpeitscher Hans Christoph Buch, dessen radikale Selbstbeschau vom »Hervortreten des Ichs aus den Wörtern« hinein in den Schleim namens Bericht aus dem Inneren der Unruhe (1979) reichte.
Erika Runges Reportagen Frauen – Versuch einer Emanzipation jedenfalls trugen die frühe Fackel und überreichten den Staffelstab, Ingeborg Bachmann beiseite gelassen, an Vera Stefans Häutungen (1975). »Als ›Feministin‹ profilierte sich in diesen Jahren, wer, wie z. B. [Alice] Schwarzer, der Kategorie des ›Geschlechts‹ vor der der ›Klasse‹ den Vorzug gab« (Sigrid Weigel: › Frauenliteratur‹ – Literatur von Frauen, in: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur [...], Bd. 12) und einen »weiblichen Ort« oder, besser, eine »weibliche Subjektivität« als Spezifikation eben des Trends zur Neuen Subjektivität entwarf. Im Zentrum stand vornehmlich die Frage nach der »kulturellen Konstruktion der Geschlechterverhältnisse«, der »Sprachregelungen und Blickinszenierungen« (Weigel). Zunächst dominierten die ungebrochene Introspektion und eine Poesie der »kleinen Sprache« (Ilse Aichinger), ab Mitte der Siebziger tat die Entdeckung des Poststrukturalismus (Lacan, Julia Kristeva, Luce Irigaray) das Ihrige, um den Slogan »Das Private ist politisch« über etwaige »Frauenoffensiven« und Buchreihen (»die neue frau«, Rowohlt Verlag) vom aufklärerischen Impetus meinethalben selbst eines Balges wie Karin Strucks inkommensurablen Romans Klassenliebe (1973) oder Margot Schröders Ich stehe meine Frau (1975) ins sexualpolitische Dekonstruktionsverfahren umzubiegen und die »Arbeit an einer Dezentrierung des Subjektbegriffes« (Klaus Briegleb) voranzutreiben. Neben Elfride Jelineks späterer Klavierspielerin (1983) stach die »topographische Darstellungsweise« in oder aus Gertrud Leuteneggers Roman Vorabend (1975) oder Birgit Pauschs recht vergessenem Buch Die Verweigerung der Johanna Glauflügel (1977) hervor (den sog. »semiotischen Körper« zerpflückten ebenso geflissentlich Anne Dudens Übergang, 1983, und Maria Erlenbergers Hunger nach Wahnsinn, 1977); was nicht verhinderte, daß parallel die »autobiographische Mode« die »Tradition des Bekenntnisdiskurses« fortsetzte und gar eine Luise Rinser mitwursteln konnte und Den Wolf umarmen (1981) in die Runde spendierte. Zehn und ein paar Jahre danach vorläufig enden mußte das alles bei Hera Lind, Gaby Hauptmann und anderen Proseccodamen des Fischer Verlags und des Hauses Reclam Leipzig.
»Nullpunkt-Bewußtsein« (Weigel) und »Einschnitt« (Briegleb): Die im engeren Sinn literarischen Folgen des Jahres und Ereignisses 1968 sind vielgestaltig. Ob das Beharren auf den »subjektiven Faktor« »der neuen Regionalliteratur« (Ralf Schnell: Die Literatur der Bundesrepublik – Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb, Stuttgart 1986) Auftrieb gab, den an die sozialen Bewegungen angeschlossenen Geschichtswerkstätten oder alltagsgeschichtlichen Erkundungen (vgl. Inga Buhmann: Ich habe mir eine Geschichte geschrieben, 1977), ob dem Boom der »Väter-Bücher« (Mattenklott) Christoph Meckels, Peter Brückners oder Christa Wolfs oder einer neuen Laienschreibbewegung der »Textberührung«, einer hehren »Schwundstufe von Kunstgewerbe« (Mattenklott): Aus dem Glauben an die »Machbarkeit und Veränderbarkeit der Subjekte und ›Verkehrsformen‹« (Briegleb) resultierte in summa kaum mehr denn die »Vermehrung der Schreibweisen« (Briegleb) unterm Banner des Posthistoire – das Wissen, es sei jetzt schlicht anything machbar.
An einem Patchwork von »Literaturen« (L. Fischer), um die sich jeweils einzelne Feuilletons oder Kritiker hegend und fördernd bemühen, wird seither gestrickt. Zuzeiten stößt irgendein Murks an die Spitze vor und erheischt, Mode zu sein: Erich Frieds umgebrochene Zeitungsheadlines; das schwer profitable Schmocktum Christoph Ransmayrs (1988) und Robert Schneiders (1992); vorher der Bauern-Kroetz als meistgespielter deutscher Dramatiker hinter Brecht; der renaissancegierige »historische Roman« (Brenner); Mitte der Achtziger, in Fortsetzung Fassbinders und/oder Kluges und des Werkes eines F. C. Delius, die RAF- und Deutscher-Herbst-Romankunst; während die ökologische Prosa schon wieder schweigt.
Statt dessen, das führen uns die Almanache der Reihe Deutsche Literatur – Ein Jahresüberblick (Reclam Stuttgart, 1981-1998, hrsg. v. Adolf Fink, Franz Josef Görtz, Volker Hage, Uwe Wittstock u. a.) vor Augen, hebt 1990 und im Sog der Christa-Wolf-Debatte umgehend die Nationallyrik an und schleppt von Kerstin Hensel bis Ulrich Schacht jeden ins Schlachtfeld, der nicht nein brüllt. Flankiert von einer kontrafaktischen und nun besonders (zweck-)freien »Literatur als Literatur« (Günter Kunert), verwesen beide zügig, um 1991 von den allerneusten Weltflüchtern beerbt zu werden, die ein Rennen Richtung »einsame Insel« (Görtz) veranstalten, wahrscheinlich fliehen sie vor der nach wie vor kurrenten Heinermüllerei.
Derweil die epische »Vereinigungsliteratur« (Brenner) zwischen Walser und Hochhuth zäher zu sein scheint und Stasiaktendossiers über Jahre hinweg den Markt fluten, läuft 1994 ungefähr alles glatt, da ist lediglich »die Kritik in der Krise« (Johannes Wilms), weshalb Durs Grünbein seinen Aufstieg einleitet und bereits 1995 »die deutsche Literatur [...] reich an Stoffen und Formen und [...] auf der Höhe der Zeit« (Hubert Winkels) rangiert und bald keine Sau mehr durchblickt.
1996 läutet man freilich ein unabgeschlossenes Th.-Bernhard-Revival plus Kopistenkonjunktur ein, und wahrscheinlich geht es demnächst, nach Antiautoritarismus, 1997 ff.er Popliteratur und in konsequenter Rückwendung via National- und abermalige Vereinigungsliteratur, wieder mit Wald- und Wiesengedichten los; die wohl der zigfach preisbehängte und bisweilen katastrophal en vogue befindliche Durs Grünbein anpacken muß, um den Scheißkreis zu schließen.
Kwulst und Kwalst
»Welch ein Theater um Labels und Personalien heutzutage«, hat Matthias Politycki im Frühjahr 2004 geklagt, den Zustand der Literaturwelt vor Augen. Hochstapelei, Nazipornos, verbotene Bücher und hysterisch diskutierte Verlagswandlungen und -wechsel scheinen die These zu bestätigen, daß der Literaturbetrieb endgültig auf den Hund gekommen ist. Jörg Schröder, der 1969 den März Verlag gründete, die hiesige Verlagslandschaft prägte, durch spektakuläre Publikationen und camouflageartige Aktionen für allerhand Wirbel sorgte und seit 1990 zusammen mit Barbara Kalender viermal jährlich etwa dreihundert Subskribenten mit der Serie Schröder erzählt beglückt, äußert sich zu den zahllosen jüngeren Fällen literarischer und feuilletonistischer Skandalisierung – und zwar auch aus dem Anlaß, daß im area Verlag jetzt die wichtigsten Bücher des März Verlags wiedererschienen sind.
In den aufgeregten Feuilletons ist von einer neuen Zeit der Literaturskandale und einer »neuen Klagelust« (Frankfurter Rundschau) die Rede. Warum dieser Lärm um das ganze Kuddelmuddel von Maxim Biller über die offenbar erfundenen Spionageabenteuergeschichten